Der erste Geburtstag in Freiheit

Vor zwei Wochen wurde ich 53 Jahre alt-mein erster Geburtstag außerhalb von Gefängnismauern seit sehr langer Zeit. Nach meiner Freilassung Ende August 2023, versuche ich mich, in einer, aus meinem durch die Haftzeit über Jahrzehnte geprägten Erleben, radikal anderen „alltäglichen Lebenswelt“, Orientierung und dort auch „meinen“ Platz zu finden.

Alltägliche Lebenswelt

Unter „Alltag“ verstehen wir eine Welt, die uns wie selbstverständlich und fraglos gegeben erscheint, die wir als vertraut und bei allen Schwierigkeiten die das Leben immerzu bereit hält, als unproblematisch wahrnehmen. Einen Alltag, den wir routiniert leben. Hieran gemessen hatte ich im Gefängnis meine „Welt der Selbstverständlichkeiten“, so konfliktreich vieles auch gewesen sein mag, so sehr ich auch die Praktiken der Vollzugsanstalten problematisierte. Die Welt außerhalb des Gefängnisses war mir, vom Lebensvollzug her aus gesehen, mit zunehmendem Abstand zum Tag meiner Verhaftung, nur noch theoretisch vertraut. Aber immerhin! Die sozialen, politischen, technologischen Entwicklungen verfolgte ich all die Jahre hindurch intensiv, so dass es mir zwar im praktischen Lebensvollzug an der notwendigen Erfahrung mangelt, dennoch kann ich zumindest auf ein theoretisches Wissen zurück greifen- vor allem jedoch: im Gegensatz zu Ex-Gefangenen, welche nach ihrer Haftentlassung in der Regel strukturelle Handlungseinschränkungen erleben, sowie Leid- und Ungleichheitserfahrungen machen, wurde ich im Moment meiner Freilassung, in einem solidarischen Umfeld aufgenommen. Hilfsbereit, freundlich, zugewandt.

Solidarische Lebenswelt

Wohnumfeld, Arbeitsplatz, politisches und privates Umfeld sind durchwoben von Solidarität. Auch im Gefängnis wird immer wieder solidarisches Miteinander gelebt, allerdings in einem wesentlich geringeren Maße, als es mir außerhalb des Gefängnisses begegnet.

Schon als ich am 29.08.2023 mittags dort eintraf wo ich erstmal würde wohnen und leben können, erfuhr ich von der ersten Minute an, was gelebte gemeinschaftliche Unterstützung bedeutet: die über 30 Kisten mit meinen Sachen wurden zusammen ausgeladen und zum Gästewagen transportiert. Immer wieder wurde ich gefragt wie es mir gehe, ob ich weitere Hilfe benötige. Nicht anders bei Radio Dreyeckland, wo ich erst ein Praktikum absolvieren und schließlich einen zweijährigen Bundesfreiwilligendienst beginnen konnte.

Im politischen Umfeld erfolgte ebenfalls eine ebenso freundliche wie solidarische Aufnahme, verbunden mit der Möglichkeit, über die Haftzeit zu sprechen. Dies als ein Versuch, jenen die vielleicht selbst von Inhaftierung bedroht sind oder entsprechende Menschen kennen, oder in Solistrukturen aktiv sind, Impulse und Informationen geben zu können, was die Situation hinter Gefängnismauern angeht. Darüber hinaus folgten noch unbeholfene Versuche, selbst Teil von Solistrukturen zu werden. Unbeholfen deshalb, weil ich mich doch immer noch unsicher fühle im intensiven direkten Umgang mit anderen Menschen. Wenn ich, wie in Haft, drei oder vier Mal im Monat zwei, drei, vier Stunden Besuch bekam, war auch das „intensiv“. Aber nunmehr über Tage, Wochen und Monate, mitunter fast täglich solche Begegnungen leben zu können, das fordert in viel stärkerem Maße. Abgesehen davon, dass ich mich erst orientieren muss, wer mit wem und warum nicht zusammenarbeiten möchte.

In dem Bereich den ich den sozialen Nahbereich nennen möchte, ob im Wohnkontext, aber vorallem den freundschaftlichen Verbindungen, erlebe ich mich besonders unbeholfen. Nehme meine Ungeschicklichkeit, Unsicherheit, das Gefühl der Fragilität am deutlichsten wahr. Es gibt sie eben -noch- nicht, die eingangs erwähnte „Welt der Selbstverständlichkeiten“.

Die Freundlichkeit

Es war 2007, und ich saß schon elf Jahre in Haft, da durfte ich erstmals telefonieren und hatte eine Callcenter-Mitarbeiterin am Apparat. Noch heute erinnere ich deren Freundlichkeit, also diese besondere Form zugewandten sozialen Handelns und Eingehens auf das Gegenüber, das mir in der Haftzeit so selten zu begegnen schien. Zweckorientierte Höflichkeit, die gab es im Haftalltag, ob seitens des Gefängnispersonals, oder auch unter uns Gefangenen, aber wirkliche Freundlichkeit recht selten. Im Zusammenhang mit den Briefwechseln und privaten Besuchen, dort erlebte ich Freundlichkeit regelmäßig- und doch war es dann nochmal etwas umfassenderes, als ich entlassen wurde. Plötzlich erlebte ich nicht nur alle paar Wochen unmittelbar zugewandtes, wohlwollendes Verhalten, so wie zuvor bei den Besuchen in der Haftanstalt, sondern tagtäglich. Von morgens bis abends. Das machte mir deutlich, in welche feindseliger Umgebung ich die letzten Jahre und Jahrzehnte zugebracht hatte: Gefängnisse sind solche feindseligen Orte. Aus gesellschaftlicher Perspektive, denn dort werden Menschen ein- und damit von der Gesellschaft ausgesperrt. Aber auch der konkret gelebte Haftalltag ist vielfach von Feindseligkeit geprägt.

Freundlichkeit musste (und muss ich nach wie vor) ich erst wieder lernen auszuhalten; noch heute fühle ich mich vertrauter, wenn mir Menschen grimmig-feindselig begegnen.

Die Wut

So wie mir auch Wut, oder Hass, viel vertrauter sind: aus eigenem inneren Erleben, aber auch im Alltag aus den Begegnungen. Sei es mit Mitgefangenen, die in Folge der täglichen Frustrationen die der einengende Haftalltag mit sich bringt, dauerwütend zu sein schienen, die alles um sich herum hassten, wütend angifteten. Nicht weniger wütend erlebte ich viele Beschäftigte von Haftanstalten. Die frustriert von ihrer beruflichen Situation schon wütend ihren Dienst begannen und nicht minder wütend beendeten- Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Hier im Leben „in Freiheit“ begegnen mir wütende Menschen ebenfalls immer wieder- und darüber hinaus spüre ich meine eigene Wut. Diese jedoch auf eine veränderte Weise, denn zum einen kann ich mich immer und immer wieder an so vielen freuen, zum anderen scheint mir die Alltagswut in den Gefängnissen über eine ganz eigene Dynamik zu verfügen, die sehr an den Ort des Gefängnisses gebunden ist.

Die sozialen, ökonomischen und politischen Ungerechtigkeiten die mir nun viel unmittelbarer begegnen, sie machen mich weiterhin wütend. Oder wenn Menschen im Knast landen, z.B. weil sie nach Ungarn ausgeliefert werden sollen, oder weil ihnen Angriffe auf die Polizei oder auf Neonazis zur Last gelegt werden- oder aus so vielen anderen Gründen. Die Existenz von Knästen macht mich immer aufs neue wütend.

In kaum einem anderen Zusammenhang wie Israel-Palästina, begegnen mir Wut und Hass in einem Ausmaß, das mich irritiert: nicht das antisemitisch motivierte Massaker vom 07. Oktober 2023. Wer wäre da nicht wütend? Wer würde hier nicht auch spontan mit Hass auf die Täter reagieren!? Nicht die Wut derer ist gemeint, die im Gaza-Streifen dem Hungertod ins Auge blicken.

Gemeint sind Wut und Hass derjenigen, die hier im Warmen sitzen, die täglich in den örtlichen Supermarkt schlendern oder im Bus sitzen können, ohne wirklich Gefahr zu laufen, wahlweise Opfer von Selbstmordattentäter*innen zu werden oder zu verhungern, oder in den Tod gebombt zu werden. Wahlweise beschimpfen viele sich als Nazis, als Antisemiten, als islamophobe Schweine, oder was sonst so an Begrifflichkeiten ins Netz gehämmert werden kann.

Die Fragilität

Zartheit, Unsicherheit, Fraglichkeit, Zerbrechlichkeit, Dürftigkeit, Vergänglichkeit- all das steckt hier drinnen, in der Fragilität (la fragilitè).

Das Leben in Haft, der Übergang von dort in die Welt vor den Gefängnismauern, wie nun auch das Leben hier, in Freiheit, es ist für mich geprägt von Solidarität, von freundschaftlichen Verbindungen- aber stets auch von besagter fragilitè. Zart sind die anfänglichen Verbindungen und müssen gestärkt werden. Unsicher bin ich im Umgang mit anderen Menschen und in vielen Situationen. Fraglich erscheint mir so vieles. Leben wie Freiheit sind stets zerbrechlich. Meine eigenen Beiträge erscheinen mir viel zu dürftig. Letztlich ist alles vergänglich: die Wut, die Freundlichkeit, die Freiheit, die Solidarität, das Leben.

Der Ausblick

Eben weil alles vergänglich ist, gilt es das Leben heute auszufüllen. Es gibt für niemanden Sicherheit darüber, dass alles, oder auch nur ein größerer Teil, gelingen wird. Immer wird es ein „Leben-auf-den-Versuch-hin“ sein. Immer wieder setze ich zu einem neuen Versuch an. Ich begegne Menschen, von Angesicht zu Angesicht, aber auch am Telefon, in Internet, per Chat, per mail.

Mit dem Gefühl ungeschickt, linkisch, tollpatschig zu sein, setze ich einen Fuß vor den anderen, in eine Welt hinein, die noch lange nicht voller „Selbstverständlichkeiten“ für mich ist.


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