Die Woche ging schon ihrem Ende zu, da fanden sich rund 15 Menschen im Rahmen der Anarchistischen Tage vor dem Freiburger Amtsgericht ein, um einen Prozess zu besuchen. Welcher Prozess besucht wurde, wie Besucher:innen das Geschehen erlebten, was der Richter für ein Urteil sprach, darum soll es im Folgenden gehen.
„CourtWatch“ – Die Vorgeschichte des Prozessbesuchs
Seit einigen Monaten gibt es in Freiburg die Gruppe „CourtWatch“. Ein loser Zusammenhang von Menschen, die sich verabreden um gemeinsam, oder auch alleine Gerichtsprozesse zu besuchen. Meist solche die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Dort wo die Klassenjustiz ihr Tagwerk verrichtet: ob am Verwaltungsgericht. Dort kämpfen zum Beispiel fünf Tage die Woche, das ganze Jahr über, Betroffene um ihren aufenthaltsrechtlichen Status, ihre asylrechtliche Anerkennung oder gegen ihre Abschiebung. Das Amtsgericht verhandelt tagtäglich in Straf- und Zivilsachen. Nicht zu vergessen das Sozialgericht: dort geht es unter anderem um Klagen gegen das Jobcenter. Dann gibt es noch das Landgericht, sowie das Landesarbeitsgericht.
CourtWatch möchte eine justizkritische, betroffenenparteiische Beobachtung etablieren, denn in der Regel sitzen in den öffentlichen Verhandlungen fast nie Zuschauer:innen. Alleine, verloren, vergessen sitzen die Menschen vor Gericht, ohne ein freundliches Gesicht im Publikum.
Je nach Kapazität berichtet CourtWatch im Anschluss nach Prozessbesuchen über die jeweiligen Verfahren, wobei die Namen zum Beispiel der Angeklagten anonymisiert werden.
Zugangskontrolle an der Gerichtspforte
Im Rahmen des Programms der Anarchistischen Tage in Freiburg war der Prozessbesuch beworben worden- rein „zufällig“ wurde an diesem Morgen der Zugang zu dem Gebäude streng ab 08.30 Uhr kontrolliert. In Freiburg ist dies beim Amtsgericht sonst nicht üblich. Zahlreiche uniformierte Justizmitarbeitende durchsuchten die Zuschauer:innen, tasteten sie ab. Das alles ging so gründlich von statten, das sich vor dem Eingang eine lange Schlange von Wartenden bildete.
Die Auswahl des Prozesses
Die Beobachtungsgruppe ging die einzelnen Gerichtssäle ab und schaute, welche Termine an diesem Morgen stattfinden würden. Es wurde dann entschieden in einen Strafprozess zu gehen, der um 9:30 Uhr beginnen sollte. „Diebstahl u.a.“ war auf der Anzeigetafel zu lesen, dazu der Name des Angeklagten, der hier Joachim Schmitt heißen soll, seines Verteidigers Harald König, sowie der Name des Vorsitzenden Richters, Richter Am Amtsgericht Klein.
Im Gerichtssaal
In Saal 9 gibt es zwei Stuhlreihen für die Zuschauer:innen. Links sitzt die Staatsanwaltschaft, rechts die angeklagte Person mit Verteidigung. Wobei es tagtäglich Strafprozesse gibt, in denen Angeklagte auf sich alleine gestellt sind! Das war hier anders, denn kaum haben wir Platz genommen, führen zwei uniformierte Justizwachtmeister:innen einen an Händen und Füßen gefesselten, hager wirkenden Mann in der typischen Gefängniskleidung in den Saal. Erst als der Richter den Saal betritt, werden Joachim Schmitt die Handschellen abgenommen, die Fußketten wird er den ganzen Tag über tragen.
Die Anklage
Staatsanwalt Feltes, der den Eindruck macht, noch etwas verschlafen zu sein, liest die Vorwürfe vor: Schmitt soll im März vergangenen Jahres im Augustiner, nachts aus dem nicht verschlossenen Lager Fleisch, Wurst und Fisch für rund 255 Euro sowie Alkoholika im Wert von 120 Euro, entwendet haben. Zudem habe er ein E-Bike das dort einer Bewohnerin im Haus gehörte, gestohlen. Dabei sei er von der Eigentümerin beobachtet und auch angesprochen worden. Das ganze spielte sich nachts gegen fünf Uhr ab.
Strafbar als gewerbsmäßiger Diebstahl, denn er habe sich durch die Diebstähle eine Einkommensquelle verschaffen wollen. Zudem soll Schmitt in der Nähe des Stühlinger Kirchplatzes einem anderen einen Kopfstoß versetzt haben, und im Februar dieses Jahres sei es vor der Notunterkunft OASE zu einem Fußtritt von Schmitt gekommen, in dessen Folge ein Mann eine Treppe hinabstürzte und sich nicht unerheblich verletzt habe. Zudem sei es am selben Tag zu Schlägen gegen den Kopf eines Mitbewohners gekommen.
Deshalb lautete die Anklage auch auf Körperverletzung.
Der Prozessverlauf
Dieser soll hier nicht en detail nachgezeichnet werden, sondern nur ein paar Schlaglichter. Joachim Schmitt, vor knapp einem Monat 53 Jahre alt geworden, äußerte sich weder zur Person nocht zu den Vorwürfen. Als dann Auszüge eines anderen Strafurteils vorgelesen wurden, kam die ganze traurige, prekäre Lebenslage des Angeklagten trotz der juristischen Vokabeln an die Zuschauer:innen heran. Armut, (sexualisierte) Gewalterfahrungen, Kinderheim, Obdachlosigkeit, und später im Prozessverlauf wurden 42 Vorstrafen aufgezählt, meist wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis, Beleidigung, Diebstahl, Betrug, Fahren ohne gültiges Ticket. Immer wieder Drogentherapieversuche, denn Drogen nimmt er seit seinem frühen Jugendalter.
Als es dann um die Tatvorwürfe selbst geht, werden einige Polizist:innen vernommen, dann auch eine 26-jährige Augenzeugin, die bei der abendlichen Auseinandersetzung vor der OASE mit auf der Treppe saß. Zudem wurde die Eigentümerin des E-Bikes vernommen.
Sie hatte, folgte man einem Polizeizeugen, den Angeklagten im Rahmen einer Lichtbildvorlage nicht mit Gewissheit identifizieren können, am Ende seien drei Fotos übriggeblieben, auf einem war der Angeklagte zu sehen, wer von den dreien es aber gewesen sein soll, da war sie sich unsicher. Auch in der Verhandlung blieb es eher unscharf, ob sie Joachim Schmitt wirklich erkannte.
Als er das Rad gestohlen haben soll, rief die Zeugin die Polizei und kurze Zeit später wurde Schmitt auf dem E-Bike von der Polizei angetroffen und festgenommen. Dieser enge zeitliche Zusammenhang, und auch der Fund der Taschen mit dem Alkohol und Fleisch in räumlicher Nähe, sprächen für seine Täterschaft, da war sich Polizeihauptkommissar Jürgen Schlegel, vom Polizeirevier Süd, ganz sicher. Er habe selbst auf google-maps nachgeschaut. Zwischen „Tatort“ und „Aufgriffsort“ sei es nicht wirklich möglich gewesen, dass irgendein Dritter dem Angeklagten das Rad und die Taschen übergeben hätten.
Im Rahmen der immer wieder von Pausen unterbrochenen Verhandlung wurden auch Lichtbilder angeschaut. Zum Beispiel vom Augustiner, dem Fleisch, dem Fisch.
Dabei nahm der Vorsitzende Richter Klein den Grundsatz der Öffentlichkeit sehr ernst. Das haben jene die schon einige Prozesse besucht haben, so noch nie erlebt: er bat alle Zuschauer:innen die die Bilder sehen wollten, zum Zeug:innen-Tisch und blätterte die einzelnen Fotos durch und erläuterte, was dort zu sehen war.
Auch die Bilder des von Treppensturz Verletzten wurden gezeigt. Dieser war im Gesichtsbereich erheblich verletzt, wobei es unklar war, ob dafür der Sturz oder nachfolgende Schläge durch einen anderen ursächlich waren.
Auch zwei Videos wurden angeschaut, allerdings waren zu Anfang weder Richter, noch der Staatsanwalt, oder die Gerichtsschreiberin und auch nicht die Justizwachtmeister:innen in der Lage den Fernseher, der an einer Seite des Saals an der Wand hing, in Betrieb zu setzen. Nach einigen Minuten kam technische Hilfe- und man sah die unscharfen Aufnahmen von dem Vorgang vor der OASE. Auf dieser war der Angeklagte nicht zu identifizieren, diesen Job erledigte ein Polizist: er sei kurz nach dem Vorfall eingetroffen und habe schon vor Ort die Videos gesichtet und anhand der Kleidung den Angeklagten als jenen Mann identifiziert, der den Tritt ausgeführt habe. Das Opfer des Tritts war auch als Zeuge geladen, konnte sich aber an den Abend nicht mehr erinnern, auch nicht daran, wer ihn getreten hatte.
Die Plädoyers
Der Staatsanwalt forderte, mittlerweile war es 13:30 Uhr, eine Haftstrafe von einem Jahr und 10 Monaten, es gebe keinerlei positive Prognose für Herrn Schmitt. Ja, er habe ein schweres Leben gehabt und immer noch, das spreche ebenso für ihn, wie der Umstand, dass das „Diebesgut“ längst wieder im Besitz der Eigentümer:innen sei, d.h. es gebe, bis auf ein geknacktes Fahrradschloss, keinen Schaden aus den Diebstählen. Aber strafschärfend sei die Hafterfahrung zu werten, ebenso die zahlreichen Vorstrafen.
Rechtsanwalt König hielt sein Plädoyer kurz, um nicht zu sagen sehr kurz: keine ganzen zwei Minuten. Er schloss sich der Beweiswürdigung der Staatsanwaltschaft an, und bat um eine „milde Strafe“.
Joachim Schmitt lehnte in seinem letzten Wort den Staatsanwalt wegen Befangenheit ab, begründete dies aber nicht. Ein Antrag den der Richter nach kurzer Unterbrechung als unzulässig verwarf.
Das Urteil
In seinem Urteil um 14:17 Uhr sprach der Richter Klein den Angeklagten schuldig; nur ein Punkt der Anklage, es ging um Schläge gegen den Kopf eines OASE-Bewohners, war noch während der Verhandlung eingestellt worden. Für ein Jahr und sechs Monate schickt Richter Klein den nun Verurteilten ins Gefängnis. In allen Anklagepunkten gehe er von einer verminderten Steuerungsfähigkeit aus, und ja, der Angeklagte bringe vieles in seiner Biografie mit, aber gerade der Tritt gegen den anderen Mann vor der OASE, der sei „saugefährlich“ gewesen, dabei kann jemand sterben.
Wie geht’s weiter und Rückblick
Joachim Schmitt kann binnen einer Berufung oder auch Revision einlegen. Manche der Zuschauer:innen waren wütend, andere bedrückt. Wütend über eine (Straf-)Justiz die hier gegen Menschen, welche in sehr prekären Lebensverhältnissen ihr Dasein fristen, mit viel Härte vorgeht. Klassistische Stereotype über den angeblich „verwahrlost“ wirkenden Angeklagten machten auch wütend.
Bedrückt über das spürbare traurige Leben des Menschen, der da in Gefängniskleidung auf der Anklagebank saß, der zwar bekundete hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen, den aber die Justizvollzugsanstalt dabei eher nicht wirkungsvoll unterstützen wird.
Was die Pflichtverteidigung angeht, war das Verfahren auch ein Beispiel für den Klassencharakter: für eine Haftsache vor dem Amtsgericht gibt’s nur wenige hundert Euro Gebühren aus der Staatskasse, das führt dazu, dass das Engagement oftmals eher übersichtlich bleibt. So auch hier: der Angeklagte äußerte sich nicht Vorwürfen, entsprechend kritisch hätte der Rechtsanwalt König die Zeug:innen befragen können. Gerade der Diebstahlsvorwurf war keineswegs so eindeutig zu belegen. Selbst bei dem Tritt vor der OASE, auf dem Video war der Angeklagte nicht zu identifizieren, hätte ein engagierter Verteidiger den Polizeizeugen entsprechend nachdrücklich befragen können.
Nichts davon geschah. Es gibt Wahlverteidiger die in Prozessen, in welchen es um „zu dichtes Auffahren auf der Autobahn“ geht, mehr Einsatz zeigen. Aber diese werden auch besser bezahlt als ein Pflichtverteidiger.
CourtWatch wird weiterhin Prozesse besuchen und vielleicht gründe sich auch in anderen Städten entsprechende Initiativen, zeigen (solidarische) Präsenz und machen den Gerichtsalltag auf diese Weise etwas transparenter.