Majas Auslieferung nach Ungarn: Verfassungsgericht hatte große Bedenken

Im Zusammenhang mit den antifaschistischen Protesten gegen Neonazis in Budapest im Februar 2023, sucht die ungarische Justiz seitdem europaweit nach Antifas, um diese in Ungarn vor Gericht zu stellen. Eine (nicht-binäre) Person aus Deutschland, Maja, wurde im Dezember festgenommen und am 28.06.2024, nachdem das Berliner Kammergericht am Vorabend die Auslieferung bewilligte, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Ungarn überstellt. Den Ausgang des gegen die Auslieferung anhängige Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG), warteten die deutschen Behörden nicht ab. Dabei hatte das BVerfG am späten Vormittag des 28.06.2024, die Übergabe Majas an Ungarn per einstweiliger Anordnung untersagt. Als der Beschluss erging saß Maja aber schon in einer ungarischen Zelle!

Verfassungsgericht legt Beschlussgründe vor

Mittlerweile hat das Gericht die Gründe für die Eilentscheidung vorgelegt. Danach steht nun fest, dass das Bundesverfassungsgericht große verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Auslieferung Majas an die ungarische Justiz hegte.

  1. Aufklärungspflicht zu den (unmenschlichen) Haftbedingungen

    Das Kammergericht Berlin hatte am 27.06.2024 in seiner die Auslieferung nach Ungarn stattgebenden Entscheidung zu den (unmenschlichen) Haftbedingungen dort lapidar erklärt, dass trotz des sehr ausführlichen Vortrags der Anwält*innen von Maja zu den realen Vollzugsbedingungen, es nicht ersichtlich sei, weshalb es in ganz Ungarn keine Haftanstalt geben solle, einen Haftraum zur Verfügung zu stellen, der der Europäischen Menschenrechtskonvention entspräche. Zudem könnte Maja entsprechende Verstöße dann vor Ort (also in Ungarn) vor Gerichten beanstanden. Dazu merkt das BVerfG an, dass letzteres nicht ohne weiteres dazu führen dürfe, dass jemand sehenden Auges in solche Verhältnisse ausgeliefert würde. Ob das Kammergericht „die Bedeutung und Tragweite von Art. 4 GRCh und die damit verbundenen Aufklärungspflichte (…) in ausreichendem Maße beachtet“ habe, das müsse ebenfalls gründlich untersucht werden. Denn Artikel 4 der Europäischen Grundrechtecharta verbietet Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafe.
  2. Zusicherungen der ungarischen Justizbehörden

    Es gibt zwar eine entsprechende Zusicherung der Justizbehörde in Ungarn, wonach der Schutz einer nicht-binären Person hinreichend sichergestellt sei. Die Werthaltigkeit und Wirklichkeitstreue diese Zusicherung bezeichnet das BVerfG als „zweifelhaft“. Denn das Kammergericht in Berlin hatte allgemeine Aussagen der ungarischen Behörde, man lege Wert auf die Verhinderung von möglichen -Zitat- „Gräultaten“, zudem enthalte der „Ethikkodex für den Strafvollzug“ explizit ein Diskriminierungsverbot. Dies als ausreichenden tatsächlichen Schutz anzusehen, so wie es die Richeter*innen des Kammergerichts getan haben, hält das BVerfG für verfassungsrechtlich wohl nicht ausreichend.
  3. Fehlender effektiver Rechtsschutz

    Deutlich arbeitet das BVerfG heraus, dass in Auslieferungsverfahren es an einem effektiven Rechtsschutz fehlt, wenn die Behörden dann ohne Wartezeit, ohne der betroffenen Person die Möglichkeit zu geben, sich mit den Rechtsbeiständen zu beraten, mit der Umsetzung der Auslieferung beginnt und so die Anrufung des Verfassungsgerichts unterlaufen. Ob eine (angemessene) Wartezeit oder auch eine konkrete Ankündigung eines Termins für eine Auslieferung notwendig sind, sei in dem weiteren Verfassungsbeschwerdeverfahren dann konkret zu prüfen.

Ausblick

Der Beschluss hat für Maja erstmal keine konkreten günstigen Folgen, eine Rückholung nach Deutschland wird voraussichtlich erst nach rechtskräftigem Abschluss des ungarischen Strafverfahrens erfolgen. Allerdings wird das Verfahren über den Einzelfall hinaus, (hoffentlich) positive Folgen zeigen: sei es für andere im „Budapest-Komplex“ beschuldigte und/oder inhaftierte Personen, wie Hanna, die in Nürnberg in Auslieferungshaft festgehalten wird, aber auch darüber hinaus.

So wird von Abschiebungen, für diese dürfen keine anderen Maßstäbe gelten, immer wieder wird berichtet, wie tief in der Nacht Polizeibeamt*innen in Unterkünfte eindringen, um Menschen, ohne die Möglichkeit ihre Anwält*innen zu informieren, mitnehmen um sie abzuschieben. Das ist Tagesgeschäft für die deutschen Behörden.

Viele schauen aktuell auf die Behörden welche Majas Auslieferung in Rekordzeit vollzogen haben, dabei gerät die Verantwortung des Kammergerichts zusehends aus dem Blick, dabei war es das Kammergericht, das mit seiner Entscheidung, die umfangreich vorgetragenen Argumente zu den unmenschlichen Haftbedingungen in Ungarn, kleinzureden oder ganz zu ignorieren, erst das ganze Geschehen in Gang setzte. Dabei sind die den Beschlussgründen zu entnehmenden Kritikpunkte und Vorhaltungen in Richtung des Kammergerichts  doch sehr massiv.

Was von Zusicherungen der ungarischen Justizbehörden zu halten ist, kann jede*r selbst beurteilen, die/der sich nur mal Berichte der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter zu den Verhältnissen in deutschen Hafteinrichtungen durchliest. Auch hierzulande gibt es viele Gesetze welche Diskriminierung, wie auch Misshandlung eigentlich verbieten.

Ein Blick in ungarische Zellen, auch in Ungarn gibt es eine entsprechende Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, lässt zwar polierte Böden und militärisch strenge Ordnung in den Zellen erkennen, und mag womöglich das Kammergericht geleitet haben, jedoch haben solche Bilder wenig mit der Wirklichkeit zu tun.

Für Maja ist der Beschluss des Bundesverfassungsgericht ein Pyrrhussieg, vielleicht wird er aber anderen Betroffenen noch von Nutzen sein und zumindest bei diesen Menschen verhindern, dass sie in unmenschliche Haftbedingungen hinein geschickt werden.

Höchstes Gericht zwingt JVA Kaisheim zur Substitution

Mit einer seiner seltenen einstweiligen Anordnungen, zwingt das Bundesverfassungsgericht, nunmehr die bayrische Justiz dazu, einen schwer drogenabhängigen Insassen der JVA Kaisheim angemessen vorläufig zu substituieren.

Die Vorgeschichte des Falls

Seit 2022 befand sich der Gefangene in Bayern im Strafvollzug und obwohl er offenbar seit 17 Jahren mit Polamidon substituiert wurde, ließen das verantwortliche Personal des ärztlichen Dienstes der JVA Kaisheim die Substitution „ausschleichen“, was dann mit erheblichen Schmerzen für den Betroffenen verbunden war, sowie mit depressive Schüben.

Er wollte das nicht hinnehmen und mit Hilfe der Dortmunder Professorin Dr. Graebsch setzte er sich vor Gericht zur Wehr. Sie beantragte im Wege eines Eilverfahrens die JVA zu verpflichten, ihren Mandanten weiter zu substituieren.

Die Entscheidung des Landgerichts Augsburg

Mit Beschluss vom 17. Oktober 2023 wies das Landgericht Augsburg den Antrag ab, legte dabei den Eilantrag auf sehr eigenwillige Art aus, manche/r mag sich an die alten Fernsehserie des „Königlich Bayrischen Amtsgerichts“ erinnert fühlen, angesichts der sehr freihändigen Art des Umgangs mit Recht und Gesetz.

Das Gericht führte aus, dass laut JVA ernsthafte Zweifel vorlägen, ob die Substitutionsbehandlung die richtige Therapieform für den Gefangenen sei, da bei diesem keine Motivation zu erkennen wäre, seine Sucht zu bekämpfen beziehungsweise an der Verbesserung der Situation mitzuwirken. Der Erfolg einer Substitutionsbehandlung erscheine zudem angesichts des Konsums von illegalen Drogen sogar während der Haft fraglich. Soweit der Insasse vortrage, Schmerzen zu haben, stelle eine Substitution keine geeignete Methode zur Bekämpfung der Schmerzen dar. Ihm angebotene Schmerztabletten habe er zudem nicht in Anspruch genommen. Dem schloss sich das Landgericht an.

Exkurs: Bayern verletzt Artikel 3 EMRK

Völlig neu dürfte der bayrischen Justiz, allen voran gerade der JVA Kaisheim, das berechtigte Verlangen nach einer Substitution nicht sein. Wurde doch am 01.09.2016 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Weigerung des ärztlichen Dienstes den damaligen Beschwerdeführer zu substituieren, das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe verletze. Der betroffene Insasse saß in eben jener JVA Kaisheim ein, in der auch der heute Betroffene seine Strafe absitzen muss. Der Entscheid des Menschenrechtsgerichtshofs war notwendig geworden, da das Bundesverfassungsgericht sich im April 2013 geweigert hatte, auf Verfassungsbeschwerde die bayrische Praxis zu korrigieren.

Diesmal interveniert das Bundesverfassungsgericht

Zumindest das Bundesverfassungsgericht scheint, in Gegensatz zur bayrischen Justiz, dazu gelernt zu haben: denn mit einstweiliger Anordnung vom 05.12.2023 (Az. 2 BvR 1661/23) hat das Verfassungsgericht die JVA Kaisheim verpflichtet, den betreffenden Gefangenen vorläufig zu substituieren. In seiner 13 Seiten umfassenden Begründung lässt das Bundesverfassungsgericht, obwohl es in einem Eilverfahren nur um eine summarische Prüfung geht, erkennen, dass das Landgericht Augsburg schwerwiegende verfassungsrechtliche Fehler begangen hat, als es das Ansinnen des Gefangenen ablehnte. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes, wie auch der Anspruch auf rechtliches Gehör könnten verletzt worden sein, so das Bundesverfassungsgericht.

Fast lapidar heißt es gegen Ende des Beschlusses: „Angesichts der potentiellen Betroffenheit des Rechtsguts Leben im Falle des Ausbleibens einer einstweiligen Anordnung überwiegt das Interesse des Beschwerdeführers, vor der Haftentlassung substituiert zu werden:“

Bewertung

Dem Einsatz seiner Rechtsanwältin aus Dortmund hat der Gefangene zu verdanken, dass er nun substituiert wird. Was passiert mit Inhaftierten die nicht auf solch eine Unterstützung setzen können? Sind vielleicht schon ehemalige Gefangene gestorben, weil ihnen zuvor die Substitution in den Gefängnissen versagt wurde? Die Vorgehensweise der ärztlichen Dienstes könnte auch strafrechtlich relevant sein, denn die Verweigerung der hier nun vom Bundesverfassungsgericht als zwingend geboten erscheinenden Substitution könnte eine Körperverletzung im Amt (durch Unterlassen) darstellen.

Die Resistenz, oder muss man sagen: Renitenz der (bayrischen) Justiz, die sich nicht schrecken lässt von Entscheidungen aus Straßburg, die überrascht jene die die Verhältnisse kennen, nicht. Vermutlich wird auch die aktuelle Karlsruher Intervention zwar für ein wenig Einzelfallgerechtigkeit sorgen, was für den Betroffenen schon lebensrettend sein kann, aber strukturell wenig verändern. Zynisch, aus Sicht von Betroffenen, mutet es an, wenn die JVA ihren Internetauftritt bewirbt mit „Justiz ist für die Menschen da“.

(Anmerkung: Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde zuerst auf der Webseite des Strafvollzugsarchivs veröffentlicht.)

Bundesverfassungsgericht rügt bayrische Justiz für Razzia bei Erlanger Professor

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Verfassungsbeschwerde des Erlanger Psychologieprofessors Dr. Stemmler gegen eine angordnete Razzia des LKA vom 30.01.2020 nicht zur Entscheidung angenommen, rügt aber die bayrische Justiz für ihr Vorgehen.

Die Vorgeschichte

Am Lehrstuhl des Erlanger Professors fand ein Forschungsvorhaben über islamistische Radikalisierung in Geföngnissen statt, eiin Projekt das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) förderte. Beteiligten Gefangenen wurde Vertraulichkeit zugesichert. Allerdings geriet ein 26-jähriger irakischer Insasse und Teilnehmer an der Studie in den Fokus der Justizbehörden. Angeblich sei er möglicherweise Mitglied einer terroristischen Vereinigung im Ausland gewesen. Im Zuge der Ermittlungen wurde dann auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft von der Ermittlungsrichterin am OLG München ein Durchsuchungsbeschluss gegen den Professor und bezogen auf dessen Räumlichkeiten. Insbesondere sollten im Zuge des Forschungsvorhaben gewonnene Unterlagen und Gesprächsaufnahmen mit dem Beschludigten irakischen Gefangenen sicher gestellt werden. Um eine Durchsuchung der Räume zu verhindern gab der Professor die Unterlagen heraus, legte danach aber Rechtsmittel ein.

OLG München weist Beschwerde ab

Mit Beschluss vom 28.07.2020 wies das OLG München die Beschwerde des Forschers zurück Die Forschungsfreiheit die grundgesetzlich gerantiert ist ziehe kein irgendwie geartetes Zeugnisverweigerungsrecht nach sich. Ein Vergleich mit der Presse sei nicht angezeigt, diese sei darauf angewiesen die Anonymität ihrer Quellen zu schützen, wohingegen die Wissenschaft mit größtmöglicher Transparenz arbeite um Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit sicher zu stellen. Nach der Strafprozessordung gebe es kein Zeugnisverweigerungsrecht für die Wissenschaft.

Verfassungsbeschwerde des Professors (nicht ganz) erfolglos!

Gegen den Beschluss des OLG München erhob der Wissenschaftler Verfassunsgbechwerde und rügte einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Interviewpartner würden ihre Bereitschaft zur Mitwirkung zurücknehmen, wenn sie mit der staatlichen Beschlagnahme der Unterlagen zu rechnen hätten, bzw. würden sich erst garnicht bereit erklären mitzuwirken.

Das Bundesverfassungsgericht wies die Beschwerde ab, da der Prozessbevollmächtigte diese offenbar zu spät eingereicht hatte (Entscheidung).

Allerdings nutzte das Karlsruher Gericht die Gelegenheit, den bayrischen Richterkolleg*innen Nachhilfe in der Auslegung des Grundgesetzes zu erteilen: danach bestünden „erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken“ geegen das Vorgehen. So formuliert das Gericht: „Die Forschungsfreiheit (…) umfasst auch die Erhebung und Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte als Bestandteil der Prozesse und Verhaltensweisen bei der Suche nach Erkenntnissen.“ Um dann abschließend festzustellen, dass „eine rationale Kriminalprävention in hohem Maße auf Erkenntnisse über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken angewiesen (ist). Eine effektive Verhinderung von Straftaten setzt deshalb genau jene Forschung voraus, die durch den Zugriff auf ihre Daten zum Zwecke der konkreten Strafverfolgung erheblich erschwert oder verunmöglicht wird.“

Bewertung und Ausblick

Der Beschluss zeigt zum einen, wie fristenfixiert die Justiz ist, auch wenn vorliegend der Rechtsprofessor der die Verfassungsbeschwerde formuliert hatte, eigentlich die Fristen kennen dürfte, zum andere ist der Fall ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die (gerne immer wieder die bayrische) Justiz ihr eigenes Recht versucht zu etablieren- und es ist kaum fraglich, daß bei nächster Gelegenheit die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Instanzengericht nicht genauso handeln werden.
Und Inhaftierte sollten bedenken, daß alles was sie gegenüber staatlichen Vertreter*innen, und seien es Forscher*innen die ihnen „Vertraulichkeit“ zusichern, gegen sie verwendet werden kann.

Anna und Arthur halten’s Maul“ ist eine zeitlos aktuelle und gute Devise!