Anthropologische Wesensmerkmale auszumachen ist ein schwieriges Unterfangen, aber der Mensch als soziales Wesen bedarf Beziehungen in existentieller Weise.
Als Ungeborenes im Mutterleib ist es geborgen, nach der Geburt ist der Mensch nur in einem sozialen Kontext körperlich und erst recht seelisch überlebensfähig.
Bezogenheit auf andere Menschen erscheint also zumindest als ein Wesensmerkmal (auch wenn es der Mensch nicht exklusiv inne hat).
Wie ergeht es Menschen, die das Land, in welchem sie geboren wurden, verlassen, um in einem Staat Fuß zu fassen, zumal in einem oft so engem wie dem der Schweiz?
Vor kurzem erschien dort im „Verlag auf dem Ruffel“ das Buch von Asiye Müjgan Güvenli:
„Wie ich mich (nicht) integrierte – Flüchtigkeitsfehler“.
Es ist das zweite in deutscher Sprache erschienene Buch der 1957 in der Türkei geborenen Autorin.
In ihrem ersten Buch, „Gelächter, das die Mauern überwindet“, erzählte sie in kleinen Geschichten aus dem Gefängnisleben in der Türkei.
Mit dem nun publizierten Erzählband tauchen wir ein in den schweizerischen Lebensalltag der Autorin, wobei die teils sehr persönlichen Erlebnisse, von denen Güvenli berichtet, sich ohne weiteres auch in Deutschland oder Österreich genau so zugetragen haben könnten.
Teils berichtet sie eigene Erlebnisse, teils die von Bekannten, wie sie im Vorwort erläutert.
Wie es sich anfühlt als „fremd“ klassifiziert zu werden, wird in jeder der fast 30 Erzählungen schmerzlich spürbar.
Die ewige Frage nach dem „Wo kommen Sie her?“ (S. 15 ff) verbunden mit dem Hinweis „Sie sprechen aber gut deutsch“, wobei, so die Autorin, nie jemand sage, sie würde es sehr gut sprechen – immer nur „gut“.
Die LeserInnen sind mit dabei, wenn eine Schweizerin eine Mitbewohnerin sucht und stillschweigend unterstellt, diese sei sicherlich Muslima, schließlich kommt sie doch aus der Türkei, deshalb „halal“-Produkte einkauft und peinlich berührt zu sein scheint, als sich die neue Mitbewohnerin als Atheistin zu erkennen gibt – und zwar eine, die auch Schweinefleisch esse.
Nur um ihr dann zu erklären, wie man einen Holzlöffel korrekt nutze und was es mit dem Dampfkochtopf auf sich habe, denn so etwas werde man in der Türkei ja kaum kennen (S. 37 ff).
Wir erfahren, was passieren kann, wenn eine „Ärztin aus der dritten Welt“, die in einem Suchtzentrum arbeitet, sich erdreistet, statt arabischen Spezialitäten zum Frühstück für die Teamsitzung einfach nur Chips, Obst und Cake mitzubringen (S. 63).
Und auch der berüchtigte Topos von „Wir sind hier nicht in Afrika, sondern in Europa“ (S. 79 ff) begegnet uns.
Alles sehr dichte Geschichten und, ich komme darauf zurück, schmerzhaft zu lesen.
In einem Nachwort apostrophiert der Ethnologe und Judaist Jaeggi den Erzählband als ein „humoristisches Plädoyer für eine rebellische Integration“.
Sicherlich gibt es unterschiedliche Auffassungen von Humor, aber „humoristisch“ fühlte sich die Lektüre nicht an.
Verglichen mit dem eingangs erwähnten ersten Buch Güvenlis, in welchem sie auch eigene Gefängniserlebnisse verarbeitet und dort die Kraft des Lachens herausgearbeitet hatte, mit welcher die inhaftierten Frauen in der Türkei auf die Brutalität des Militärs und jener der Gefängnisbediensteten im Kollektiv und mit Solidarität antworteten, empfinde ich ihr neues Buch als schmerzbeladener.
Gerade, weil ihr und denjenigen, deren Geschichten sie erzählt, in der Schweiz nicht mit offener physischer Gewalt begegnet wurde, sondern mit dem Gestus der angeblich aufgeklärten, sich selbst oftmals als links und progressiv verstehenden „Einheimischen“, nicht selten auch dem „gut gemeintem“ Interesse.
Dabei aber rassistische Sterotype perpetuierend, daherkommend als „Flüchtigkeitsfehler“, wie auch der Untertitel des Buches lautet.
Diese kommen, wie sie Güvenli schildert, oftmals im Gewande dessen einher, was wir heute als „Mikroaggression“ bezeichnen.
Diesen über Jahre und Jahrzehnte ausgesetzt zu sein, als Mieterin, als Arbeitskollegin, Bekannte, Freundin, Mitfahrende im Zug oder im Bus, an jedem nur denkbaren Ort, wo Menschen einander begegnen, kann sodann tiefer wirken, tiefer verletzen, als es offen feindselige Brutalität seitens Gefängnispersonals vermag.
All das ändert aber nichts an den ständigen Bemühungen, doch irgendwie „dazu zu gehören“ und trotz allem die eigene Identität zu beschützen und an bestimmten Punkten auch die Integration zu verweigern.
Bibliografische Angaben zu dem rezensierten Buch:
Autorin: Asiye Müjgan Güvenli
Titel: „Wie ich mich (nicht) integrierte – Flüchtigkeitsfehler“
Seiten: 99
Verlag: Verlag auf dem Ruffel (Schweiz)
ISBN: 978-3-933847-63-8
Preis: 25 CHF
Rezensent:
Thomas Meyer-Falk
z.Zt. Justizvollzugsanstalt (SV)
Hermann-Herder- Straße 8
D-79104 Freiburg
Deutschland
https://freedomforthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de
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