Rezension „Knastreport – Das Leben der Weggesperrten

Strafvollzug 2011

Im Frühjahr dieses Jahres erschien von dem für die taz (die tageszeitung, Berlin) tätigen Journalisten, Sozialpädagogen und Soziologen Kai Schlieter das Buch „Knastreport – Das Leben der Weggesperrten“.

Auf 254 Seiten bietet der Autor einen ungeschminkten Einblick in den bundesdeutschen Strafvollzug; er lässt neben einigen Gefangenen auch Professor Kröber (Berlin), einen der bekanntesten deutschen forensischen Psychiater zu Wort kommen.

Die sechs Kapitel des Sachbuches unterteilen sich in insgesamt 27 Unterkapitel, vom „Knastkomplex“ (Seite 15 – 38), dort wird über die Erfindung der Gefängnisse, der Gier nach Strafe, wie auch Gefängnisarchitektur erzählt. Hin zu den „jugendlichen Verbrechern“

(Seite 41 – 74); dort berichtet u.a. Yunus von den traumatisierenden Erfahrungen in der Jugenduntersuchungshaft zu landen. Sein Fall machte 2009 deshalb Schlagzeilen, weil ihm vorgeworfen wurde, am 01. Mai in Berlin auf einen Polizisten einen Molotow – Cocktail geworfen zu haben.

Erst nach über einem halben Jahr zermürbender Haft folgte der Freispruch. Kritisch reflektiert Schlieter die aufgeblasene und hysterisierende Medienberichterstattung wenn es um angebliche „Jugendgewalt“ geht.

Im dritten Kapitel („Vollzug für harte Jungs und böse Mädchen“); Seite 77 – 104) lesen wir von einem Mann, der in Berlin – Tegel, sowie von einer Frau, die in Pankow – Buchholz lebenslange Strafen wegen Mordes absitzen. Beide erzählen aus ihrem Haftalltag auf sehr anschauliche Weise.

In „Missstände im toten Winkel“ (Seite 107 – 174), dem umfangreichsten Kapitel des Buches, wird schließlich Tacheles geredet: es geht um Willkür, systematischen Rechtsbruch und um langjährige Isolationshaft.

Neben der Situation von Peter Wegener (Seite 160 ff), der seit 1973 nahezu ununterbrochen in Haft sitzt, davon seit 1995 in Isolationshaft, wird auch Günter Finneisens Haftalltag thematisiert. Er wird in Niedersachsen seit 1995 in Isolation gehalten. Da die taz im Zuge der Veröffentlichung des Buches in einer der großen Reportage auf Herrn Finneisens Eingemauert – Sein hinwies, kam es zu einer kleinen Anfrage der GRÜNEN im Landtag. Es äußerten sich zudem die bekannte Kriminologin

Professorin Frommel („Das ist Folter“), wie auch der ehemalige BGH – Richter und heutige LINKS – Partei Bundesabgeordnete Neskovic, wie Vollzugskenner kritisch über diese nun 16 Jahre andauernde Isolierung.

Seit Anfang Mai 2011 wurde Herrn Finneisens Situation nunmehr gelockert; hierzu mag vielleicht dieses Buch beigetragen haben.

Im Buchkapitel „Das Risiko des Bösen“ (Seite 177 – 216) geht es schließlich um das schwierige Thema der „Kriminalprognose“; wie soll künftiges Verhalten von Gefangenen im Rahmen von Haftentlassungen sicher vorhergesagt werden!? Hier geht Schlieter auf das zur Zeit wieder sehr aktuelle, weil durch ein Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 04. Mai 2011 ins Bewusstsein gerückte Institut „Sicherungsverwahrung“, nämlich der Inhaftierung von Menschen, die ihre Freiheitsstrafe längst verbüßt haben, ein.

Im Schlusskapitel schließlich („Perspektiven“, Seite 219 – 236) wird ein kritischer Ausblick gewagt, die zunehmende Privatisierung im Bereich Strafvollzug angesprochen und letztlich ein sehr kritisches Resümee gezogen, frei von Träumereien.

Niemand, der dieses Buch liest, wird auf die BILD – Berichterstattung hereinfallen, wonach Gefängnisse letztlich etwas abgespeckte Hotels seien. Wer neben allgemeinen und auch statistischen Informationen über den Strafvollzug Interesse hat, sich Einzelschicksale von Inhaftierten zu öffnen, dem sei der Kauf dieses Buches uneingeschränkt empfohlen. Er

oder Sie wird danach Gefängnisse mit anderen Augen betrachten.

Thomas Meyer-Falk, z. Zt. JVA Z. 3113, Schönbornstraße 32, D – 76646 Bruchsal

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Bibliografische Angaben:

Kai Schlieter, „Knastreport – Das Leben der Weggesperrten“

erschien 2011 im Westend-Verlag, 254 Seiten, 17,95 Euro

ISBN 978-3-938 060-67-4

Sicherungsverwahrung verboten?

Am 04. Mai 2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die zur Zeit geltenden Bestimmungen über die Sicherungsverwahrung (zur SV siehe auch  http://de.indymedia.org/2011/01/298027.shtml ) allesamt gegen die Verfassung verstoßen. Deshalb sollen im Folgenden die Entscheidungsgründe kurz dargestellt und eine erste Einschätzung abgegeben werden.

1.) Das Urteil vom 04. Mai 2011a.) Vorgeschichte

Nachdem die Zahl der in SV untergebrachten Personen bis Mitte der 90er soweit zurückging (auf knapp 180 Männer), dass sogar an eine mögliche Abschaffung dieser Maßregel gedacht wurde, zogen in Folge hektischer gesetzgeberischer Aktivitäten nach spektakulären Sexualmorden, insbesondere zum Nachteil von Kindern, die Verwahrtenzahlen erheblich an auf mittlerweile über 500 Personen (zu fast 100% Männer).
Sicherungsverwahrung, dies als kleiner Exkurs, ermöglicht der Justiz seit 1933 (denn die Nationalsozialisten fügten die SV in das damalige Reichsstrafgesetzbuch ein) einen Menschen auch über die Dauer der eigentlich verhängten Haftstrafe hinaus im Gefängnis zu behalten; zumindest solange, wie er/sie „gefährlich“ für die Allgemeinheit ist. Bis 1998 durfte die erstmalige Anordnung der SV maximal 10 Jahre vollzogen werden, seit einer Gesetzesänderung noch unter CDU/FDP (Kohl-Regierung) darf jedoch eine Verwahrung auch bis zum Tode erfolgen.

Seit Gesetzesänderungen von 2002/2004 kann darüber hinaus die SV auch nachträglich, also kurz vor dem regulären Haftende angeordnet werden.

Hiergegen klagten erfolgreich einige Verwahrte bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekamen von dort bescheinigt, dass einerseits die Haftbedingungen in der SV desolat seien und somit die SV im Sinne der Menschenrechtskonvention eine Strafe darstelle und andererseits deshalb – weil sie eine Strafe darstelle – eine rückwirkende Verlängerung, bzw. Anordnung menschenrechtswidrig sei ( http://de.indymedia.org/2010/01/270543.shtml ).

Da sich allerdings in Deutschland nur wenige Gerichte bereit fanden, die Urteile des EGMR auch auf ähnlich gelagerte Fälle anzuwenden und die Betroffenen aus der Haft zu entlassen (wie beispielsweise Herrn Ralf Schüler, einen Einbrecher  http://de.indymedia.org/2010/08/288316.shtml ), landeten mehrere Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.

b.) Entscheidungsgründe

In dem 178 Absätze umfassenden Urteil verwirft das Gericht einerseits alle wesentlichen Regelungen der Sicherungsverwahrung, da diese angesichts des real praktizierten Vollzugsalltages grundgesetzwidrig seien (aa.), bzw. sofern eine rückwirkende Verlängerung/Verhängung erfolgte, diese gegen den Vertrauensschutz verstoße (bb.), billigt aber dem Staat eine lange Übergangsfrist zu, innerhalb derer die bisherigen Regelungen fortgelten, wenn auch unter Einschränkungen (cc.).

aa.) Vollzugsalltag

Da der Vollzugsalltag weitgehend dem des Strafvollzuges ähnele und er nicht mal ansatzweise auf die Wiedererlangung der Freiheit ausgerichtet sei, so das Gericht, verstoße die Sicherungsverwahrung heute gegen das Grundrecht auf Freiheit der Person.

In den Absätzen 111 ff. macht das BVerfG dann dem Gesetzgeber zahlreiche Vorgaben hinsichtlich der einzuführenden Mindeststandards: die SV, ihr Antritt oder Vollzug müssten die „ultima-ratio“ sein, das heißt, schon der vorangeschaltete Strafvollzug müsse zwingend auf eine Vermeidung der SV ausgerichtet sein, namentlich durch ein intensives Therapieangebot und entsprechende Vollzugslockerungen. So der Antritt der SV dann erfolge, sei zwingend eine umfassende Diagnostik durchzuführen, Therapiemaßnahmen und ein multidisziplinäres Team von Fachkräften haben intensiv auf einen frühestmöglichen Entlassungszeitpunkt hinzuwirken. Die Betroffenen seien auch zu „motivieren“, und zwar durch ein „Anreizsystem (…) das aktive Mitarbeit mit besonderen Vergünstigungen oder Freiheiten honoriert oder auch solche entzieht, um Motivation und Mitarbeit zu erreichen“.

Ergänzt werden diese Vorgaben des Gerichts durch ein Trennungsgebot (Strafhaft und SV sind strikt zu trennen, wobei jedoch die SV-Einrichtungen sich durchaus auf dem Gelände von Gefängnissen befinden dürften) und insbesondere ein „Rechtsschutz- und Unterstützungsgebot“, wonach jedem Verwahrten von Anfang an ein „Beistand“ beizuordnen sei, der ihn „bei der Wahrnehmung seiner Rechte und Interessen unterstützt“.

Vollzugslockerungen, so kann das Gericht verstanden werden, seien im Regelfall zu gewähren und nicht – wie heute – nur im Ausnahmefall.

Die Notwendigkeit der Fortdauer der Verwahrung sei jährlich (und nicht wie jetzt nur alle zwei Jahre) gerichtlich zu prüfen. Ferner sei ein umfassendes Netzwerk zu schaffen, welches die Verwahrten nach einer Freilassung aufnehmen könne.

Bislang fehle es jedoch an diesen verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards und somit sei das gesamte Institut der Sicherungsverwahrung verfassungswidrig.

Diese Ausführungen betreffen folglich alle Sicherungsverwahrten, unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Verurteilung. Für den Spezialfall der rückwirkenden Verlängerung/Anordnung der SV macht das Gericht weitere Vorgaben.

bb.) rückwirkende Verlängerung/Anordnung der SV

Weiterhin beharrt das BVerfG auf seiner schon 2004 vertretenen Ansicht, die SV stelle keine Strafe dar, und positioniert sich hier eindeutig gegen die Rechtssprechung des EGMR. Allerdings gewichtet heute – im Gegensatz zu früher – der 2. Senat den Vertrauensschutz höher und berücksichtigt auf dieser Ebene die Urteile des EGMR von 2009-2011.
Da die Menschenrechtskonvention die Verwahrung „psychisch kranker“ Menschen (Art. 5 Abs. 1 Buchstabe 3 EMRK) durchaus erlaubt, müssen nun bei den sogenannten „Altfällen“ (also jenen, die vor der Reform von 1998 zu SV verurteilt wurden oder bei denen die SV nachträglich angeordnet wurde) umfangreiche Begutachtungen bis spätestens 31.12.2011 erfolgen. Eine weitere Verwahrung ist demnach nur zulässig, „wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten“ drohe und der Untergebrachte zugleich an einer „psychischen Störung“ leide. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, hat bis zum 31.12.2011 die Freilassung zu erfolgen.

Um es nochmal zu betonen, diese besonders hohe Hürde für eine weitere Sicherungsverwahrung betrifft ausschließlich die erwähnten „Altfälle“, deren Zahl je nach Schätzung 70-100 der über 500 Verwahrten umfasst.

cc.) lange Übergangsfrist

Das Gericht weigert sich, die Verwahrten sofort aus der Haft zu entlassen, da dies (Randnummer 168 des Urteils) „zu einem Chaos führen würde“ und ein „rechtliches Vakuum entstünde“. Bis 31. Mai 2013 bekommen der Bund und die 16 Länder Zeit, eine den Grundsätzen des Urteils gerecht werdende gesetzliche Regelung zu schaffen. Wobei das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, dass die Gesetze den Anstalten und Gerichten künftig eindeutige Vorgaben zu machen hätten und ihnen keine allzu großen Spielräume belassen dürften.
Erwähnenswert ist noch die Folge für den aktuellen Vollzugsalltag der Sicherungsverwahrten. In einem Nebensatz (Randnummer 172) verweist das Gericht darauf, dass wegen des aktuell verfassungswidrigen Zustandes den Betroffenen ausschließlich jene Beschränkungen auferlegt werden dürften, „die unerlässlich sind, um die Ordnung des betroffenen Lebensbereichs aufrechtzuerhalten“.

2.) erste Einschätzung des Urteils

Auf den ersten Blick mag es einem Paukenschlag gleichkommen, wenn das höchste deutsche Gericht die Sicherungsverwahrung insgesamt für verfassungswidrig erklärt. Jedoch begibt es sich dann durch seine Weigerung, die Betroffenen sofort freizulassen, in Konflikt mit Artikel 104 Abs. 1 GG, wonach nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes die Freiheit der Person beschränkt werden darf. Hier setzt das Gericht seine aus Sicht der Verwahrten willkürliche Rechtsprechung von 2004 fort, als es auch schon Gesetze zur Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig klassifizierte, ohne aber die Betroffenen freizulassen.

Unabhängig davon führt das Urteil, auch bedingt durch missverständliche Medienberichte, dazu, dass nicht nur Menschen in Freiheit, sondern gerade auch in Haft nun der Ansicht sind, die Sicherungsverwahrung sei abgeschafft oder werde zumindest durch einen hotelartigen Vollzugsalltag ersetzt. Nichts davon trifft zu; auch das BVerfG hält fest an dem Gedanken von 1933, Menschen trotz Verbüßung ihrer Haft, ggf. auch bis zu deren Tod weiterhin zu verwahren – wenn auch (zugegebenermaßen) unter komfortableren Bedingungen als jetzt.

Wie allerdings mit der Menschenwürde zu vereinbaren sein soll, dass die Anstalten im Rahmen des „Motivationsgebots“ (Randnr. 114) Freiheiten und Vergünstigungen ausdrücklich entziehen dürfen, wenn Verwahrte nicht mitspielen wollen, so wie es das Behandlungsteam wünscht, erscheint schon jetzt fraglich.
Nicht weniger bedenklich sind auch die Ausführungen zur „psychischen Störung“, die gegeben sein muss, um „Altfälle“ auch weiterhin verwahren zu können (Randnr. 151 ff), und sich dann ganze Absätze dem (vergeblichen) Versuch widmen, aus delinquentem Verhalten eine „psychische Störung“ abzuleiten. Das dahinter stehende Menschenbild verdient Kritik, denn hier werden Menschen zu Objekten staatlicher Definitionsversuche von Krankheiten. „Du bist KRANK – deshalb bleibst du hinter Gittern“, das ist die kurze, aber prägnante Schlussfolgerung.

Es bleibt nun erstmal nur abzuwarten, wie sich bis 2013 die Rechtslage entwickeln wird. Aber spätestens wenn der erste „Altfall“ sich erneut bis zum EGMR durchgeklagt hat, wird neuer Ärger ins Haus stehen.

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA-Z. 3113
Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
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Das Urteil kann kostenfrei abgerufen werden unter
 http://bverfg.de/entscheidungen/rs20110504_2bvr236509.html

Neue Schikane gegen Mohamed Abu Dhess?

 Ich hatte erst kürzlich über das Schicksal des in Köln lebenden Mohamed Abu Dhess ( http://de.indymedia.org/2011/04/304510) berichtet. Nun fühlt er sich massiv durch die Stadt schikaniert. Was ist geschehen?
Schikane durch Amt für Öffentliche Ordnung?Mit Anhörungsbogen vom 01.04.2011 teilte man Mohamed mit, dass Herr Monschau vom „Amt für öffentliche Ordnung“ gegen ihn Anzeige erstattet habe, da er gegen seine Meldepflichten hartnäckig verstoßen habe. Ihm wurde auferlegt, täglich „auf der Polizeiwache Köln-Nippes (…) in der Zeit von 10:00 Uhr bis 12:00 Uhr persönlich“ vorzusprechen.
An insgesamt 27 Tagen habe er hiergegen verstoßen, in dem er bspw. am 08.02.2011 (schon) um 09:58 Uhr vorgesprochen habe, anstatt (frühestens) um 10:00 Uhr. Minutengenau reiht sich ein „Verstoß“ an den anderen, mal sei er schon um 09:50 Uhr, mal um 09:56 Uhr erschienen.
„Mit freundlichen Grüßen“ wird ihm mitgeteilt, dass dieses Verhalten mit Bußgeld von bis zu 1000 Euro pro Verstoß geahndet werden könne und er sich nunmehr hierzu äußern dürfe.
Hier tobt sich augenscheinlich deutsches Beamtentum in Reinkultur aus, denn ein Erscheinen auf der Polizeiwache um zwei oder drei Minuten vor der angesetzten Zeit zu einer Strafanzeige (die Staatsanwaltschaft führt unter Az. 121 Js 759/10 das Verfahren) führt.
Es bleibt abzuwarten, ob Mohamed für dieses angebliche Fehlverhalten tatsächlich bestraft wird.
Thomas Meyer-Falk, c/o JVA – Z. 3113, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
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Interview zum 18.03. – eine eigene Welt – erschienen im ND

Zu Besuch in der baden-württembergischen JVA Bruchsal bei dem Gefangenen Thomas Meyer-Falk.

Thomas Meyer-Falk, 39 Jahre alt, klagt auf Offenlegung der Rechnungen zum Besuch des US-Präsidenten Georg W. Bush in Angela Merkels vorpommerschen Wahlkreis 2006. Zugang zu solchen Dokumenten gewährt das Informationsfreiheitsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern allen Bürgern, auch Gefangenen. Meyer-Falk sitzt seit 1996 wegen Bankraubs mit Geiselnahme im Gefängnis. Nach Ende seiner Freiheitsstrafe wird er 2013 in Sicherungsverwahrung verlegt, d.h. eine Entlassung ist derzeit unabsehbar. Niels Seibert besuchte ihn in der JVA Bruchsal und sprach mit ihm über seine Klage und das Gefängnis.

Was für ein bombastischer Klotz. Ein vierflügeliger Backsteinbau, an ein Panoptikum erinnernd, umgeben von einer begehbaren Sandsteinmauer und acht Wehrtürmen mit ziegelroten Zinnen. Im Mauergang patrouillieren Vollzugsbeamte mit Maschinenpistolen. Das gesamte Gelände ist nochmals von einem Metallzaun mit NATO-Stacheldraht bzw. einer grauen, stockfleckigen Betonmauer eingegrenzt. Das festungsähnliche Bauwerk steht zwischen Schloss und Krankenhaus in der Bruchsaler Innenstadt. Der Anblick vermittelt schon von außen: Hier wäre es schöner ohne das Gefängnis.

ND: Thomas Meyer-Falk, wäre die Welt schöner ohne Knäste?

Meyer-Falk: Ja, selbstverständlich. In einer Gesellschaft, in der Menschen selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben, selbstreflektiert handeln, sich ihrer Schwächen bewusst werden und nach Lösungen suchen können, sind Gefängnisse überflüssig. Die Idee des Anarchismus geht davon aus, dass die Menschen dazu in der Lage sind.

ND: Jetzt leben wir aber noch in unschönen kapitalistischen Verhältnissen.

Meyer-Falk: In der heutigen Gesellschaftsform haben Gefängnisse einen Sinn; einen geringeren als in Amerika, wo aktiennotierte Firmen Gefängnisse betreiben. So weit sind wir hier noch nicht. In Deutschland gibt es Public Private Partnership: In Offenburg und Hünfeld ist der Bau bzw. der Betrieb der Gefängnisse teilweise privatisiert: die Küche, der Sozialdienst und der ärztliche Dienst. In manchen Gegenden, beispielsweise in Burg, Sachsen-Anhalt, sind Gefängnisse einer der größten Arbeitgeber im Ort. Sie bieten Arbeit und Auskommen für mehrere hundert Menschen. Das ist der ökonomische Faktor. Und es gibt den psychologischen Faktor für die Gesellschaft, die so ihre Probleme einfach auslagern kann.

Etwa 30 Schritte sind es vom Eingang der JVA Bruchsal bis zu den Besuchszellen. Auf diesem Weg gehe ich durch insgesamt neun Sicherheitstüren ohne Türgriffe und eine Personenkontrolle wie am Flughafen mit Durchgangsdetektor. Ich muss sämtliche mitgeführten Gegenstände – sogar die Armbanduhr – in einem Schließfach hinterlegen. Wenn ich schon mal da sein werde, hatte ich den Anstaltsleiter telefonisch gefragt, ob ich dann auch eine Zelle sehen könne? Ohne lange nachzudenken verneinte er: Die JVA sei voll belegt.

ND: Wie muss ich mir, Herr Meyer-Falk, eine Zelle vorstellen?

Meyer-Falk: Die Zellen in Bruchsal sind zirka acht Quadratmeter groß, vielleicht 2,20 Meter breit. Die Deckenhöhe ist 4,50 Meter. Das Fenster ist in etwa zwei Meter Höhe angebracht. Wenn man also hinausgucken will, muss man einen Stuhl an die Wand stellen und draufsteigen. Man hat ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, ein Regal.

ND: Sind diese Gegenstände am Boden festgeschraubt?

Meyer-Falk: In den neu renovierten Zellen wird mittlerweile alles fixiert, da ist bis auf den Stuhl nichts mehr beweglich. Die Schränke haben heute keine Rückwand mehr und stehen 10 cm von der Wand entfernt, damit Beamte sofort entdecken können, wenn Löcher in die Wand gegraben werden zu den alten Heizschächten, in denen im 19. Jahrhundert die Heißluft von unten nach oben zog. Die Hohlräume wurden im Laufe der Jahrzehnte von vielen Gefangenen als Versteck genutzt, vor allem für Most.

In der Zellenecke haben wir die WC-Schüssel und ein Waschbecken, abgetrennt durch einen Vorhang. Die Wasserdampfheizung in meiner Zelle hat kein Thermostatventil. Sie geht nur entweder an oder aus. Sie wird zentral geregelt. Und abends, ab 7 Uhr ist keine Heizung mehr an und dann wird es kalt in der Zelle.

Das Männerzuchthaus Bruchsal wurde im Oktober 1848 eröffnet. Die ersten Insassen waren politische Häftlinge: Aufständische der Badischen Revolution. Auch Christian Klar, Gefangener aus der RAF, saß hier bis zu seiner Entlassung 2008. Thomas Meyer-Falk wurde wegen eines Bankraubs verurteilt, mit dessen Beute Geld für linke Projekte organisiert werden sollte.

ND: Verstehen Sie sich als politischer Gefangener?

Meyer-Falk: Ich hatte ja eine politische Absicht und Vorstellung, was ich mit dem zu erbeutenden Geld gerne gemacht hätte. Aber ich würde mich nicht als politischen Gefangenen sehen, weil ich mit der Kategorie nicht so viel anfangen kann. Ich halte schon die Differenzierung für relativ problematisch, weil dadurch Hierarchien entstehen. Vor zehn Jahren hätte ich die Frage vielleicht noch anders beantwortet. Aber wenn man mit den Schicksalen der Leute hier direkt konfrontiert ist, denkt man anders: dass der Einbrecher in der Nebenzelle die Freiheit genauso verdient hätte wie ich.

ND: Ich finde immer auch wichtig, warum ein Mensch im Knast ist und wie er sich dort verhält. Aber ich gebe zu: Der Begriff des politischen Gefangenen ist problematisch, weil er Definitionssache und abhängig von Interessen und Zielen ist. Sie setzen sich für Ihre Rechte und die anderer Gefangener ein. Auch deshalb nehme ich Sie als einen kämpfenden Gefangenen wahr. Können Sie mit dieser Bezeichnung mehr anfangen?

Meyer-Falk: Ja, selbstverständlich, oder anarchistischer Gefangener oder Red-Skin, das schon eher.

Auf aushängenden DIN-A4-Zetteln wird in einem antiquierten Behördendeutsch die »Abwicklung des Toilettengangs« bei Besuchen erklärt. So ein Knast ist eine eigene Welt. Eine konservative Welt. Viele gesellschaftliche Entwicklungen und Fortschritte dringen von draußen nicht oder erst um Jahre verspätet durch die Gefängnismauern.

ND: Wie kann man unter diesen unfreien Verhältnissen zu einem freien Menschen werden?

Meyer-Falk: Gefängnisse in unserer Gesellschaft sind nicht dazu da, Menschen zu vermitteln, selbstbewusste, selbstständig denkende, selbstständig handelnde Wesen zu werden. In einem Zeitschriftenartikel wurde einmal ein Gefängnis mit einem Bienenstock verglichen: Es gibt die Königin, den Anstaltsleiter, und es gibt die Arbeitsbienen, die Gefangenen. Es geht tatsächlich darum, die Gefangenen zu fleißigen Arbeitsbienen zu drillen. Das heißt, morgens regelmäßig zur Arbeit gehen und den Rest des Tages den Mund halten. Damit das so läuft, wird mit Drohungen und Repressalien gearbeitet. An den Bedürfnissen der Menschen orientiert man sich nicht. Das kann man hier mitunter besonders deutlich beobachten, wenn Gefangene plötzlich anfangen selbstständig ihre Angelegenheiten zu regeln, wenn sie beispielsweise ihre Schuldenprobleme einfach selber in die Hand nehmen ohne sich vorher mit Juristen der Anstalt, mit Sozialdienst oder psychologischem Dienst kurzgeschlossen zu haben. Dem begegnet die Justiz eher skeptisch. Anstatt die Ressource des Gefangenen, die er selbstständig nutzt, zu loben und zu fördern, wird mit Unwillen und mit Misstrauen reagiert. Das ist meine Erfahrung – wie überhaupt hier primär auf die Defizite der Leute geachtet wird, anstatt auf das vorhandene Potenzial.

Grundsätzlich werden solche Besuche nicht genehmigt, hatte mir der Beamte aus dem baden-württembergischen Justizministerium fernmündlich erklärt, bei dem ich den Besuch beantragen musste. Aufenthalte von Journalisten »bringen den Gefängnisalltag durcheinander«. Dokumentationen und Reportagen über einzelne Gefangene seien den Zwecken des Strafvollzugs, der Resozialisierung und Wiedereingliederung sowie der Aufarbeitung der Straftat, abträglich. Es könne sogar sein, dass die Inhaftierten ihre Verurteilung in Frage stellen. Aber der Beamte werde bei »dem Meyer-Falk« eine Ausnahme machen wegen dessen verwaltungsgerichtlicher Klage auf Offenlegung der Rechnungen von Angela Merkels Empfang für Georg W. Bush im Jahr 2006.

ND: Wie teuer war Merkels Grillparty für den US-Präsidenten ?

Meyer-Falk: Die Zahlen schwanken. Auf eine parlamentarische Anfrage hin hat die Landesregierung eine Summe von 8,7 Millionen Euro genannt.

ND: Haben Sie spannende Details aus den Akten erfahren?

Meyer-Falk: Ich habe bis heute noch keine Unterlagen gesehen. Das Verwaltungsgericht Schwerin hat zwar die Offenlegung der Endsummen der jeweiligen Rechnungen angeordnet, aber das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Innenministerium lehnt es deshalb ab, die Unterlagen vorzulegen, zu deren Offenlegung es verpflichtet wurde. Wann das Oberverwaltungsgericht in Greifwald entscheiden wird, ist noch offen.

In der sterilen Besuchszelle sind ein kleiner quadratischer Tisch und vier Schalenstühle in braunem Farbton fest im Boden verankert. In meinem Rücken eine breite Spiegelglasscheibe in der Wand. Dahinter sitzen sie, die – wie vom Anstaltsleiter angekündigt – den Besuch »lediglich optisch überwachen«. Als ich mich mit Thomas Meyer-Falk schon eine ganze Weile unterhalten habe, klingelt es plötzlich. Ich schaue mich um.

ND: Was klingelt denn da?

Meyer-Falk: In der Nebenzelle hinter dem Spiegel läutet das Telefon.

ND: Aber – wenn wir das Klingeln und das Telefongespräch so deutlich hören, dann hören die auch jedes Wort unseres Gesprächs.

Meyer-Falk: Ja, natürlich. Wundert Sie das?

Wir wechseln noch ein paar Worte, dann ist die Besuchszeit schon vorüber und alles geht ganz schnell. Im Nu stehe ich am Ausgang, das große Tor öffnet sich, Tageslicht dringt herein. Ich kann hinausgehen.

komplettes Interview mit Bildern:

http://www.neues-deutschland.de/artikel/193498.eine-eigene-welt.html