Freigelassen im Angesicht des Todes – ein System, das bis zuletzt verwahrt

Lothar H. saß in Hessen in Sicherungsverwahrung. Über seinen Tod habe ich schon an anderer Stelle berichtet. Nun liegt der die Entlassung anordnende Beschluss des Landgerichts Marburg vom 19.08.2025 (Az. 7 StVK 72/25) in anonymisierter Fassung vor.

Angesichts einer fortgeschrittenen Krebserkrankung wurde die Freilassung von Lothar ab dem 15. Oktober 2025 angeordnet. Rein formal folgt die Kammer den gesetzlichen Vorgaben, reiht Gutachten, Vollzugsberichte und Anhörungen aneinander und gelangt am Ende zur Prognose, dass Lothar aufgrund seines körperlichen Verfalls keine erheblichen Straftaten mehr begehen könne.

Doch gerade diese scheinbare Selbstverständlich­keit offenbart die Abgründe dieses Strafsystems. Nicht ein humaner Umgang mit Krankheit, Altern und Sterben führt zu dieser Entlassung, sondern allein die Unfähigkeit des Körpers, Gewalt auszuüben. Der Staat erkennt die Menschenwürde des Verwahrten erst in dem Moment an, in dem sein Körper so geschwächt ist, dass er als ungefährlich gilt. Humanität wird disponibel, abhängig von körperlicher Funktionsfähigkeit. Dem soll im folgenden nachgegangen werden.

Sicherungsverwahrung als Endstation

Der Fall macht die systemischen Probleme der Sicherungsverwahrung sichtbar. Es waren die Nationalsozialisten welche die SV eingeführt haben. Seitdem können Menschen auch nach Verbüßen der ihnen zugedachte Strafe, bis ans Lebensende verwahrt werden.

Lothar, befand sich seit 2016 in Sicherungsverwahrung. Das Urteil von 2009, das in seinem Fall die Sicherungsverwahrung anordnete, und die jahrzehntelange Vorgeschichte schwerer Taten dienen jedoch in der hier zu besprechenden Entscheidung kaum mehr als zur Kulisse. Sie legitimieren rückwirkend eine Verwahrpraxis, die biografisch gesehen auch in diesem Fall vor allem eines produzierte: lebenslange Ausschließung. Sicherungsverwahrung ist ein Instrument struktureller Gewalt. Sie ist nicht Resozialisierung (wiewohl das Bundesverfassungsgericht eine solche ausdrücklich auch für den Bereich der Sicherungsverwahrung fordert), sondern repressive Risikopolitik. Operiert wird mit Prognosen, die selbst hochspezialisierte Sachverständige kaum valide treffen können (vgl. exemplarisch „Sicherungsverwahrung. Die Bedeutung des Sachverständigen für die gerichtliche Prognoseentscheidung“ von Kathrein Becker, dort Seite 27, Fußnote 124)

Im Alltag führt dies regelmäßig dazu, dass Menschen auch noch im hohen Alter, in Krankheit oder im Sterben als Gefahrenquellen behandelt werden.

In Marburg kommt die Wende in dem konkreten Einzelfall nicht durch „Therapieerfolge“ des angeblichen Behandlungsvollzugs, sondern weil der Mann nicht mehr laufen kann.

Der Körper als Grundlage der Freilassung

Der Beschluss führt vor Augen, wie eng das gegenwärtige Strafsystem trotz aller Modernisierung weiterhin mit jenen Mechanismen verbunden ist, die schon Michel Foucault in „Überwachen und Strafen beschrieben hat: die Disziplinierung, Objektivierung und Verfügbarmachung der Körper. Foucaults Analyse, dass die Macht im Gefängnis nicht nur einsperrt, sondern den Körper lesbar, kontrollierbar und schließlich verwertbar macht, wird hier im Beschluss des Landgerichts Marburg auf makabre Weise sichtbar.

Die Strafvollstreckungskammer begründet die Entlassung im Kern damit, dass „der Körper nicht mehr kann“. Die körperliche Schwäche wird damit zur zentralen Kategorie des Rechts. Der Staat lässt den Verwahrten nicht frei, weil er krank ist und deshalb ein Recht auf Sterben in Würde hätte, sondern weil sein Körper die Funktionen verloren hat, die ihn, im straflogischen Sinne, noch als gefährlich markiert hätten.

Foucault beschreibt, dass der moderne Strafvollzug nicht mehr primär körperliche Schmerzen zufügt, sondern den Körper in ein „kalkulierbares Element“ verwandelt: als Träger von Risiken, Wahrscheinlichkeiten, Gefährlichkeitswerten. Genau diese Logik dominiert den Beschluss des hessischen Gerichts. Der Körper des Untergebrachten wird medizinisch vermessen, psychologisch klassifiziert, prognostisch berechnet. Gewicht, Beweglichkeit, Tumorstadien, Opiatdosierungen, all das wird nicht erhoben, um Leid zu mildern, sondern um die aufs Sicherheitskalkül reduzierte Frage zu beantworten: Kann dieser Körper noch Gewalt ausüben?

Der Beschluss reproduziert damit eine der von Foucault beschriebenen Kernmechaniken: Die Macht des Staates operiert nicht mehr über die spektakuläre Bestrafung des Körpers, sondern über seine totale Durchdringung, bis hinein in die letzten Stunden eines Menschen. Der Verwahrte wird zum Objekt medizinisch-juristischer Bewertung. Seine Freilassung beruht weniger auf seiner Subjektqualität als Mensch als auf der Objektqualität seines geschwächten Körpers.

Dass Lothar noch vor wenigen Jahren als „gefährlich“ galt und nun, im Stadium physischen Zerfalls, als „tragbar“ erscheint, zeigt die funktionale Reduktion des Subjekts auf körperlich messbare Gefährlichkeit. Es ist gerade nicht die Rückkehr zu Würde, sondern die Vollendung des foucaultschen Disziplinarregimes: Macht entscheidet über den Körper, solange er funktioniert, und überlässt ihn erst dann dem Sterben, wenn er endgültig aus den Kategorien der Kontrolllogik herausfällt.

Wenn die Kammer schreibt, es sei nun „verantwortbar“, den Verwahrten in ein Hospiz zu entlassen, liegt auch darin ein unüberhörbares Echo jener Straflogik, die Foucault als „Verwaltung der Körper“ beschrieben hat. Freiheit erscheint nun nicht mehr als Menschenrecht, sondern als Nebenprodukt körperlichen Zusammenbruchs. Der Mensch wird nicht freigestellt, sein Körper wird entwertet. Erst der beinahe vollständige Verlust an Vitalität macht ihn kompatibel mit dem, was das System noch als „vertretbare Freiheit“ anerkennt.

In dieser Perspektive wird die Freilassung zum Endpunkt eines disziplinarischen Prozesses: Der Körper, jahrzehntelang Ziel von Einschluss, Kontrolle und Disziplinierung, wird erst in dem Moment „freigegeben“, in dem er keine Funktionsfähigkeit mehr besitzt. Foucault hätte darin keinen Akt humanistischer Gnade gesehen, sondern die Vollendung eines Systems, das sowohl Strafe als auch Gnade an der Körperlichkeit bemisst.

Ein Staat, der fast kein Hospiz findet

Die Entscheidung zeigt darüber hinaus ein erschreckendes institutionelles Vakuum: Seit März 2025, so der Beschluss des Landgerichts, suchte die Justizvollzugsanstalt ein Hospiz: ohne Erfolg. Kliniken lehnen ab, Hospize lehnen ab. Niemand will die Verantwortung übernehmen. Dass sich ein Hospiz weigern könnte, einen sterbenden Menschen aufzunehmen, wäre schon für sich genommen ein Armutszeugnis sozialer Versorgung. In Verbindung mit dem Strafvollzug gerät es jedoch zu einem exemplarischen Beispiel für einen doppelten Ausschlusse: erst Gefängnis, dann Verstoßung aus der zivilen Gesundheitsversorgung.

Erst als das Gericht die Kostenübernahme für ein Hospiz durch die Staatskasse anordnet, entsteht überhaupt eine minimale Chance auf Aufnahme, nicht etwa als Selbstverständlich­keit öffentlicher Fürsorge, sondern als eine juristisch konstruierte Ausfallhaftung des Staates.

Eine Gesellschaft, welche jahrzehntelang einsperrt, übernimmt offenbar keinerlei Verantwortung für ihr Sterben.

Der Tod als letzter Ausweg aus der Verwahrung

Es ist kein Zufall, dass der Beschluss fast beiläufig erwähnt, der Lothar könne ohne Hospiz auch freiwillig im Gefängnis (vgl. § 18 HSVVollzG) sterben. Diese Möglichkeit steht im Raum wie ein düsteres Warnzeichen: Der Staat ist bereit, einen sterbenden Menschen bis zum letzten Atemzug zu verwahren, wenn das Entlassungsszenario organisatorisch nicht aufgeht. Es ist die stillschweigende Anerkennung dessen, was seit Jahren Realität ist: Viele Gefangene sterben im Vollzug, weil die gesetzlichen Möglichkeiten der Haftunterbrechung oder Haftverschonung kaum genutzt werden. Vor über 10 Jahren hatte ich über Willi berichtet, dessen Sterben in Haft ich hautnah verfolgte, ihm wurde keine Haftverschonung gewährt.

Lothar, wie Willi, stehen exemplarisch für eine Politik des „Wegschließens bis zum Tod“.

Die Grenzlinie zwischen „Gefährlichkeit“ und Menschenwürde

Die drei Richter:innen des Landgerichts Marburg argumentieren selbst im Angesicht des Todes mit der Möglichkeit verbaler Aggressionen, Beleidigungen und sexualisierter Anzüglichkeiten. Dass diese, als „verbale Grenzverletzungen“, überhaupt eine Rolle spielen, zeigt, wie eng das Gefahrenraster gefasst bleibt. Die Entscheidung befindet sich in einem Spannungsfeld: Einerseits wird klar benannt, dass körperliche Gewalt nicht mehr möglich ist. Andererseits wird die Persönlichkeitsstruktur weiterhin pathologisiert, und die Zukunftsprognose bleibt trotz des prekären Zustands von Sicherheitsrisiken bestimmt.

Diese Konstellation führt zu einem grundsätzlichen Problem: Der Anspruch auf Menschenwürde und die Frage, ob ein Mensch in Freiheit sterben darf, wird rechtlich durch die Brille der Gefährlichkeit betrachtet. Die Logik der Sicherheitsverwahrung ist nicht fähig, Sterben als Menschenrecht zu begreifen.

Was sagt Lothars Fall über das System?

Der Beschluss ist mitnichten ein Sieg der Humanität im Angesichts des Todes. Das Landgericht dokumentiert, trotz der angeordneten Freilassung, die juristische Verwaltung eines Versagens. Er zeigt, dass:

  • die Sicherungsverwahrung faktisch lebenslang vollstreckt wird,
  • die Gefängnisse denkbar schlecht vorbereitet sind auf Krankheit und Sterben,
  • Hospize und Kliniken Gefangene als „Fremdkörper“ betrachten,
  • Entlassungen oft erst dann erfolgen, wenn der Körper zusammenbricht,
  • Menschenwürde nachrangig gegenüber Sicherheitslogiken ist.

Eine linke Perspektive: Abschaffung der Verwahrlogik

Aus einer linken und grundsätzlich gefängniskritischen Perspektive weist Lothars tödliche Erkrankung und sein Tod über sein individuelles Schicksal hinaus: Die Sicherungsverwahrung ist kein reformierbares Instrument, sondern Ausdruck eines Systems, das Menschen nicht „resozialisiert“, sondern verwahrt und verwaltet. Darüber hinaus ist es ein System das in zentralen Bereichen strukturelle Gewalt ausübt. Die vermeintliche „Ultima Ratio“ zeigt sich in der Praxis als lebenslange Verlängerung eines Vollzugs, der weder Altern noch Krankheit, weder psychische Krise noch Sterben sozial angemessen auffängt. Wer wie Lothar erst im präterminalen Stadium, also Tage vor seinem Tod, aus der Verwahrung entlassen wird, ist Beispiel für eine Praxis, die Menschen erst dann freigibt, wenn der Körper als Gefährdungsträger ausfällt. Damit wird die Frage nach Freiheit nicht an Würde und Menschenrechten orientiert, sondern an körperlicher Funktionsfähigkeit und Prognosen.

Wenn der Staat erst angesichts medizinischer Unabwendbarkeit bereit ist, Freiheit auch für als „gefährlich“ klassifizierte Menschen in Betracht zu ziehen, verweist das auf ein fundamentales Problem: Die Gefährlichkeitslogik dominiert so sehr, dass Krankheit und Sterben nur als Faktoren in einem Risikomanagement berücksichtigt werden. Eine humanere Politik müsste dagegen grundsätzlich sicherstellen, dass sterbende und schwerkranke Gefangene frühzeitig und bedingungslos entlassen werden, weil ihr Leben und Sterben nicht an institutionelle Sicherheitsroutinen delegiert werden darf. Ebenso bedarf es einer Versorgungsstruktur, die den Übergang von Haft zu Palliativversorgung nicht von der Gnade einzelner Hospize abhängig macht. Eine soziale Gemeinschaft, die Verantwortung ernst nimmt, darf Menschen nicht im institutionellen Niemandsland zwischen Gefängnis, Obdachlosigkeit, Klinik und Hospiz aufreiben.

Der vorliegende Beschluss zeigt damit nicht nur das Elend eines Einzelfalls, sondern offenbart tiefer liegende strukturelle Missstände: Die Verwahrlogik ist blind gegenüber existentiellen Lebenslagen, sie produziert Ausschluss statt Fürsorge und organisiert Tod eher als Risiko denn als menschliche Realität. Von einer linken Perspektive aus kann die Antwort darauf nicht etwa in einer institutionellen Optimierung liegen, sondern in einer grundlegenden Abkehr von Systemen wie Gefängnis, Sicherungsverwahrung und anderen Orten der Verwahrung. Humanität darf nicht erst im Endstadium einsetzen. Sie muss am Anfang stehen!

Anmerkung:
Der Beschluss des Landgerichts kann in anonymisierter Fassung hier als PDF heruntergeladen werden.

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