Rezension: „Nach dem Knast- Alltag und unsichtbare Bestrafungen“

Vor kurzem legte die Freiburger Kulturanthropologin Dr. Barbara Sieferle im transcript-Verlag eine Studie zur Lebenswirklichkeit von (männlichen) hafterfahrenen Menschen in der Übergangsphase von Haft in die Welt außerhalb der Gefängnismauern vor. Welche Herausforderungen, Schwierigkeiten, Konflikten begegnen Menschen in dieser Situation, wie gelingt es ihnen in der Gesellschaft anzukommen?

Die Methode

Durch eine längerfristige „Teilhabe und das Miterleben der Lebensrealitäten hafterfahrener Menschen“, wie Sieferle schreibt, ist es ihr möglich geworden die ganz konkreten Höhen und vor allem auch Tiefen der Betroffenen zu beobachten. Statt nur, wie sonst üblich, durch punktuelle Befragungen zu versuchen die Situation zu erhellen, hat die Autorin über mehrere Monate hinweg, Menschen die noch in Haft saßen, bei denen aber eine Entlassung absehbar war, begleitet. Vor allem dann aber auch in der Zeit nach ihrer Freilassung. Dazu ging sie in (zwei) Haftanstalten, besuchte die Inhaftierten, und traf sich mit diesen nach deren Entlassung: ob in Einrichtungen der Straffälligenhilfe, in Wohnheimen, in deren Wohnungen, oder auch einfach auf einer Steinmauer vor einer Haftanstalt.

Kritik am Begriff der „Resozialisierung“

Den zentralen Grundannahmen die dem Begriff der „Resozialisierung“ eingeschrieben scheinen, begegnet Sieferle kritisch: die erste Grundannahme, straffällig gewordene Menschen wiesen einen Mangel an Sozialisation auf, teilt sie nicht, denn aus kulturwissenschaftlicher Sicht könnten Menschen keinen „Mangel an Sozialisation“ aufweisen. Sozialisation als „mangelhaft“ zu bewerten sei aber typisch für die Strafjustiz und markiere die Betroffenen zu gleich als „moralisch deviant“. Die zweite Grundannahme, der behauptete „Mangel an Sozialisation“ könne gerade im Gefängnis behoben werde, teilte sie ebensowenig. Hier werde, Sozialisation auf die Ausbildung eines Normenbewusstseins und dessen Befolgung verengt. Dabei, so Sieferle, sei soziales Zusammenleben und kulturelle Bedeutungssetzungen jedoch nicht mit Normen gleichzusetzen. Die Fokussierung auf bloße „Legalbewährung“ greife zu kurz.

Die Herausforderungen für die hafterfahrenen Menschen

Unsicherheitsgefühle erscheinen dominierend. Schon während der Phase einer bevorstehenden Freilassung machen sich diese bemerkbar, auch wenn zugleich viel Euphorie zu verzeichnen ist, bald den Gefängnisalltag hinter sich lassen zu können. Aber immer wieder schlagen Fragen durch, wie ein Neubeginn gelingen, wie der Lebensunterhalt gesichert, gewohnt und wie der Alltag strukturieren werden kann. Wie wird die Rückkehr gelingen, angesichts des Stigmas des „Ex-Gefangenen“? Und dann, kaum in Freiheit gelangt, verstärken sich diese Unsicherheiten angesichts erlebter Frustrationen in Alltag.

Der Autorin gelingt es in besonderer Weise, durch die Wiedergabe ihrer Begegnungen mit den Betroffenen, deren Lebenswirklichkeit lebendig zu machen, zugleich diese jedoch kulturwissenschaftlich einzuordnen in den größeren Zusammenhang. Vor allem aber zu dekonstruieren, beispielsweise durch Reflexion der Gesellschaftsbilder welche die Haftentlassenen aufweisen. Die gerne integriert werden möchten und deshalb oftmals ganz besonders vorsichtig agieren, um nirgends anzuecken.

Systemische Faktoren

Der kulturwissenschaftliche Blick ist in seiner Analytik auf die Gesamtheit angelegt, weshalb Barbara Sieferle immer wieder auf die systemischen Zusammenhänge zurück kommt. Wie hafterfahrene Menschen auf mitunter sichtbarere oder oft auch weniger sichtbare Mauern stoßen welche eine Rückkehr in die Welt außerhalb von Gefängnissen erschweren, oder gar verunmöglichen. Selbstverständlich können die Betroffen immer versuchen innerhalb ihrer Strukturen zu verbleiben, bei Anlauf- und Beratungsstellen für Haftentlassene, in Wohnheimen oder an ähnlichen Orten. Das Stigma Gefängnis, so die Kulturwissenschaftlerin, sei nicht nur äußerst langlebig, sondern weise auch eine durch und durch moralische Komponente auf. Es markiere hafterfahrene Männer als ›unmoralische Andere‹.

Weshalb, auch nach Ansicht der hafterfahrenen Betroffenen, die eigentliche Bestrafung erst nach der Haftentlassung beginne. Die von der Gesellschaft, stellvertretend von den Gerichten, zugemessene Freiheitsstrafe verbüßt, beginnt erst mit der Entlassung die soziale Wirkmächtigkeit der Verurteilung so richtig zu wirken, da die Wiedereingliederung ein im Grunde Jahre dauernder Prozess ist.

Resümee

Bei der Buchlektüre fühlte ich mich immer wieder erinnert an Alice Goffmans Buch aus dem Jahre 2014, “ON THE RUN Die Kriminalisierung der Armen in Amerika”, die gleichfalls im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung die prekäre Lebenssituation von Menschen in einem Armenviertel beschrieb und analysierte. Die nun vorgelegte Studie von Dr. Sieferle bietet einen Einblick in die ganz aktuellen Problembereiche von Menschen die aus der Haft entlassen werden: deren Armut, deren Suche nach einem Platz in der Gesellschaft, ihre Hoffungen, ihre Sorgen und Nöte.

Es sollte besonders von jenen gelesen werden die mit hafterfahrenen Menschen in Berührung kommen, aber auch von Inhaftierten, um sich schon vorab ein (realistischeres) Bild zu machen von der eigenen Situation in welche sie dereinst gelangen werden. Eigentlich müsste das Buch auch zur Pflichtlektüre im Bereich des Justiz-/Strafvollzuges gemacht werden. Aber die Praktiker*innen der „Resozialisierung“ könnten dort mit ihnen womöglich unangenehmen An- und Einsichten konfrontiert werden. Zu wünschen wäre zudem eine vergleichbare Studie zur Lebenswirklichkeit von weiblichen und weiblich gelesenen hafterfahrenen Menschen, denn deren spezifischen Problembereiche konnten in der vorliegenden Studie nicht mit abgedeckt werden, auch wenn sich viele der allgemeinen Herausforderungen bei diesen in ähnlicher Weise stellen dürften.

Der Verlag stellt das Buch erfreulicherweise als PDF kostenlos zum Download bereit, denn in der gedruckten Fassung kostet es stolze 45 €!

Bibliografische Angaben:
Autorin: Dr. Barbara Sieferle
Titel: „Nach dem Gefängnis-Alltag und unsichtbare Bestrafungen“, 234 Seiten
Preis: 45 € (als PDF: kostenfrei)
ISBN: 978-3-8376-6891-9

Nach der Haft- was nun: Theorie meets Praxis. Eine Rechtsanwältin und eine Kulturanthropologin sprechen im Interview über Ihre Arbeit

In der Katholischen Akademie in Freiburg fand am 06. November 2023 eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung unter der Überschrift „Du kommst aus dem Gefängnis frei- Resozialisierung-Impulse aus Theorie und Praxis“ statt. Norbert Schwab, stellvertretender Direktor und einer der Studienleiter der Akademie, leitete die Veranstaltung mit einem kurzen Impuls ein. In Monopoly-Spiel, so Schwab, verhelfe einem die Ereigniskarte „Du kommst aus dem Gefängnis frei“ zurück ins Spiel.In der Wirklichkeit sei das aber nicht so einfach. Wer fängt Menschen nach der Freilassung aus dem Gefängnis auf ihrer emotionalen Achterbahn ab, wer hilft, was leistet die Gesellschaft? Im Anschluss an Schwabs Impuls hielten die aus Würzburg angereiste Theologin Katharina Leniger und die Freiburger Uni-Dozentin Dr. Barbara Sieferle jeweils einen etwa zwanzigminütigen Vortrag. Leniger sprach aus der Sicht der Ethikerin was den ein „resozialisiertes Leben“ meine und wie Strukturen aussehen sollten um ein solches zu gewährleisten. Das Problem im Haftalltag, so Leniger, sei nicht nur die Entfremdung von Familie und Freund*innen, sondern auch das Fehlen von Eigenverantwortung. Selbst die einfachsten Alltagshandlungen, wie kochen, Wäsche waschen, würden den Gefangenen abgenommen, so dass nach der Freilassung viel zu vieles erst wieder neu gelernt werden müsste. Kritisch positionierte sich Leniger auch zur Frage der „Sicherheit“: diese sei ein wichtiges Gut, aber letztlich sei es doch ein „leerer Begriff“, dominiere aber zu häufig die politische Debatte, wenn es um den Strafvollzug gehe.

Dr. Sieferle wiederum sprach in ihrem Vortrag aus der Perspektive der Kulturwissenschaften. Sie erzählte einleitend, dass sie viele Jahre gedankenlos an der Mauer der örtlichen Haftanstalt vorbei gefahren sei auf dem Weg zur Uni, sich nicht ansatzweise für die Welt und die Menschen dahinter interessiert habe. Nun, nach, vielen Jahren intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung mit Strafe, Strafvollzug und insbesondere den hafterfahrenen Menschen sehe sie einen deutlichen Widerspruch zwischen den gesetzlichen Vorgaben Inhaftierte zu „re-sozialisieren“ einerseits und der Wirklichkeit andererseits. Schon dem Begriff der „Resozialisierung“ begegnete sie mit viel Skepsis und dekonstruierte ihn, auch wenn er als Konzept eine wichtige politische Funktion habe.  Wenn sie heute an der Mauer der Haftanstalt vorbei fahre, frage sie sich immer wieder, welche Alternativen es zu den Gefängnissen geben könne.