KlassenJustizInSüdbaden: Gefängnispfarrer i.R. Philippi über sein Berufsleben hinter Gittern

In der Dezember-Sendung von KlassenJustizInSüdbaden (KJIS) hatte ich die Gelegenheit, ein ausführliches Interview mit dem evangelischen Gefängnispfarrer im Ruhestand Michael Philippi zu führen.

Am 31.01.2025 wurde er in Freiburg in den Ruhestand verabschiedet. Nach Stationen u.a. im hessischen Strafvollzug, war er, bevor er in die Freiburger Justizvollzugsanstalt wechselte, sechs Jahre lang Studierendenpfarrer im südbadischen Freiburg.

Michael Philippi spricht darüber, wie man Menschen an einem der dunkelsten Orte unserer Gesellschaft begleitet. Es geht um Hoffnung, Schuld und Verantwortung – und um die Frage, ob Resozialisierung gelingen kann. Wir sprechen über seine Jahre im Strafvollzug, seine Erfahrungen in Lateinamerika und die Bedeutung der Befreiungstheologie für den deutschen Gefängnisalltag.

Ein Interview über Menschlichkeit in einem System, das oft wenig Raum dafür lässt, das hier auf der Seite von Radio Dreyeckland zu hören ist.

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Sich nicht spalten lassen im Kampf gegen Rechts- Ricarda Budke spricht über den jüngsten Angriff der Rechten in Cottbus!

In Cottbus kommt es, wie in der ganzen brandenburgischen Region, seit langem zu Brandanschlägen und Angriffen auf queere und linke Räume wie das Regenbogenkombinat oder jetzt ganz aktuell, in der vergangenen Woche, auf den selbstverwalteten, alternativen Jugendclubs „Chekov“. In der Nacht von Freitag auf Samstag, sprühten Rechte ihre Parolen an die Fassade. Die von Jugendlichen selbst gestalteten Wandbilder wurden dadurch zerstört. Neben queer- und frauenfeindlichen Beschimpfungen wurde in großen Lettern „Cottbus bleibt deutsch“, ein bei rechtsextremen Hooligans des FC Energie Cottbus seit Jahren beliebter Slogan, an die Wand geschrieben.

Viele Betroffene fühlen sich von Behörden nicht ausreichend ernst genommen und fordern endlich konsequentes Handeln gegen rechte Strukturen. Für RDL konnte ich mit Ricarda Budke, Sprecherin von ‚Sichere Orte Südbrandenburg‘ und bis 2024 Mitglied des Brandenburger Landtags für Bündnis 90/Die Grünen, ein Interview führen.

Sie erzählt mehr über den Angriff, darüber warum es nicht reicht, wegzuschauen, und was jetzt geschehen muss, damit antifaschistische und queere Communities nicht erneut im Stich gelassen werden.

Das Interview kann hier, auf der Seite von Radio Dreyeckland, nachgehört werden.

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Ich nehme Wut mit- die sich in Mut wandelt! RDL-Kollegin Linda berichtet über die Anti-AfD-Proteste in Gießen

Zehntausende Menschen haben am Ende November 2025 in Gießen gezeigt: Rechter Normalisierung wird etwas entgegengesetzt. Gegen die Gründung der neuen AfD-Jugend-Organisation standen viele auf der Straße: bunt, laut, entschlossen. 

Gleichzeitig erlebten viele Demonstrierende massive Polizeigewalt. Was passiert ist, welche Bilder hängenbleiben, und wie Widerstand heute aussieht, darüber habe ich mit RDL-Kollegin Linda, die den ganzen Tag als Teil der antifaschistischen Protestbewegung, vor Ort war, gesprochen.

Das Interview findet sich hier auf der Seite von Radio Dreyeckland.

Triggerwarnung: In den Gespräch geht es auch um Polizeigewalt.

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Unschuldig verurteilt- was tun? Das Innocence Project hilft!

Nur selten wird in der Öffentlichkeit über Fehlurteile in Strafsachen gesprochen. Menschen die oft für lange Zeit in Haft geschickt werden, aber in Wirklichkeit unschuldig sind.

Für Radio Dreyeckland sprach ich Anfang des Monats mit Rechtsanwältin Laura Farina Diederich. Sie ist Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des Innocence Project Deutschland, einer Initiative, die Menschen unterstützt, die zu Unrecht verurteilt wurden – und die sich dafür einsetzt, dass solche Fehler erkannt und korrigiert werden können.

Wir sprachen darüber, welche Hürden es für Wiederaufnahmeverfahren gibt, wie belastend es für Menschen ist, gänzlich unschuldig in Haft zu sitzen und warum es manchmal so schwer ist, Unrecht wieder gutzumachen.

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Freigelassen im Angesicht des Todes – ein System, das bis zuletzt verwahrt

Lothar H. saß in Hessen in Sicherungsverwahrung. Über seinen Tod habe ich schon an anderer Stelle berichtet. Nun liegt der die Entlassung anordnende Beschluss des Landgerichts Marburg vom 19.08.2025 (Az. 7 StVK 72/25) in anonymisierter Fassung vor.

Angesichts einer fortgeschrittenen Krebserkrankung wurde die Freilassung von Lothar ab dem 15. Oktober 2025 angeordnet. Rein formal folgt die Kammer den gesetzlichen Vorgaben, reiht Gutachten, Vollzugsberichte und Anhörungen aneinander und gelangt am Ende zur Prognose, dass Lothar aufgrund seines körperlichen Verfalls keine erheblichen Straftaten mehr begehen könne.

Doch gerade diese scheinbare Selbstverständlich­keit offenbart die Abgründe dieses Strafsystems. Nicht ein humaner Umgang mit Krankheit, Altern und Sterben führt zu dieser Entlassung, sondern allein die Unfähigkeit des Körpers, Gewalt auszuüben. Der Staat erkennt die Menschenwürde des Verwahrten erst in dem Moment an, in dem sein Körper so geschwächt ist, dass er als ungefährlich gilt. Humanität wird disponibel, abhängig von körperlicher Funktionsfähigkeit. Dem soll im folgenden nachgegangen werden.

Sicherungsverwahrung als Endstation

Der Fall macht die systemischen Probleme der Sicherungsverwahrung sichtbar. Es waren die Nationalsozialisten welche die SV eingeführt haben. Seitdem können Menschen auch nach Verbüßen der ihnen zugedachte Strafe, bis ans Lebensende verwahrt werden.

Lothar, befand sich seit 2016 in Sicherungsverwahrung. Das Urteil von 2009, das in seinem Fall die Sicherungsverwahrung anordnete, und die jahrzehntelange Vorgeschichte schwerer Taten dienen jedoch in der hier zu besprechenden Entscheidung kaum mehr als zur Kulisse. Sie legitimieren rückwirkend eine Verwahrpraxis, die biografisch gesehen auch in diesem Fall vor allem eines produzierte: lebenslange Ausschließung. Sicherungsverwahrung ist ein Instrument struktureller Gewalt. Sie ist nicht Resozialisierung (wiewohl das Bundesverfassungsgericht eine solche ausdrücklich auch für den Bereich der Sicherungsverwahrung fordert), sondern repressive Risikopolitik. Operiert wird mit Prognosen, die selbst hochspezialisierte Sachverständige kaum valide treffen können (vgl. exemplarisch „Sicherungsverwahrung. Die Bedeutung des Sachverständigen für die gerichtliche Prognoseentscheidung“ von Kathrein Becker, dort Seite 27, Fußnote 124)

Im Alltag führt dies regelmäßig dazu, dass Menschen auch noch im hohen Alter, in Krankheit oder im Sterben als Gefahrenquellen behandelt werden.

In Marburg kommt die Wende in dem konkreten Einzelfall nicht durch „Therapieerfolge“ des angeblichen Behandlungsvollzugs, sondern weil der Mann nicht mehr laufen kann.

Der Körper als Grundlage der Freilassung

Der Beschluss führt vor Augen, wie eng das gegenwärtige Strafsystem trotz aller Modernisierung weiterhin mit jenen Mechanismen verbunden ist, die schon Michel Foucault in „Überwachen und Strafen beschrieben hat: die Disziplinierung, Objektivierung und Verfügbarmachung der Körper. Foucaults Analyse, dass die Macht im Gefängnis nicht nur einsperrt, sondern den Körper lesbar, kontrollierbar und schließlich verwertbar macht, wird hier im Beschluss des Landgerichts Marburg auf makabre Weise sichtbar.

Die Strafvollstreckungskammer begründet die Entlassung im Kern damit, dass „der Körper nicht mehr kann“. Die körperliche Schwäche wird damit zur zentralen Kategorie des Rechts. Der Staat lässt den Verwahrten nicht frei, weil er krank ist und deshalb ein Recht auf Sterben in Würde hätte, sondern weil sein Körper die Funktionen verloren hat, die ihn, im straflogischen Sinne, noch als gefährlich markiert hätten.

Foucault beschreibt, dass der moderne Strafvollzug nicht mehr primär körperliche Schmerzen zufügt, sondern den Körper in ein „kalkulierbares Element“ verwandelt: als Träger von Risiken, Wahrscheinlichkeiten, Gefährlichkeitswerten. Genau diese Logik dominiert den Beschluss des hessischen Gerichts. Der Körper des Untergebrachten wird medizinisch vermessen, psychologisch klassifiziert, prognostisch berechnet. Gewicht, Beweglichkeit, Tumorstadien, Opiatdosierungen, all das wird nicht erhoben, um Leid zu mildern, sondern um die aufs Sicherheitskalkül reduzierte Frage zu beantworten: Kann dieser Körper noch Gewalt ausüben?

Der Beschluss reproduziert damit eine der von Foucault beschriebenen Kernmechaniken: Die Macht des Staates operiert nicht mehr über die spektakuläre Bestrafung des Körpers, sondern über seine totale Durchdringung, bis hinein in die letzten Stunden eines Menschen. Der Verwahrte wird zum Objekt medizinisch-juristischer Bewertung. Seine Freilassung beruht weniger auf seiner Subjektqualität als Mensch als auf der Objektqualität seines geschwächten Körpers.

Dass Lothar noch vor wenigen Jahren als „gefährlich“ galt und nun, im Stadium physischen Zerfalls, als „tragbar“ erscheint, zeigt die funktionale Reduktion des Subjekts auf körperlich messbare Gefährlichkeit. Es ist gerade nicht die Rückkehr zu Würde, sondern die Vollendung des foucaultschen Disziplinarregimes: Macht entscheidet über den Körper, solange er funktioniert, und überlässt ihn erst dann dem Sterben, wenn er endgültig aus den Kategorien der Kontrolllogik herausfällt.

Wenn die Kammer schreibt, es sei nun „verantwortbar“, den Verwahrten in ein Hospiz zu entlassen, liegt auch darin ein unüberhörbares Echo jener Straflogik, die Foucault als „Verwaltung der Körper“ beschrieben hat. Freiheit erscheint nun nicht mehr als Menschenrecht, sondern als Nebenprodukt körperlichen Zusammenbruchs. Der Mensch wird nicht freigestellt, sein Körper wird entwertet. Erst der beinahe vollständige Verlust an Vitalität macht ihn kompatibel mit dem, was das System noch als „vertretbare Freiheit“ anerkennt.

In dieser Perspektive wird die Freilassung zum Endpunkt eines disziplinarischen Prozesses: Der Körper, jahrzehntelang Ziel von Einschluss, Kontrolle und Disziplinierung, wird erst in dem Moment „freigegeben“, in dem er keine Funktionsfähigkeit mehr besitzt. Foucault hätte darin keinen Akt humanistischer Gnade gesehen, sondern die Vollendung eines Systems, das sowohl Strafe als auch Gnade an der Körperlichkeit bemisst.

Ein Staat, der fast kein Hospiz findet

Die Entscheidung zeigt darüber hinaus ein erschreckendes institutionelles Vakuum: Seit März 2025, so der Beschluss des Landgerichts, suchte die Justizvollzugsanstalt ein Hospiz: ohne Erfolg. Kliniken lehnen ab, Hospize lehnen ab. Niemand will die Verantwortung übernehmen. Dass sich ein Hospiz weigern könnte, einen sterbenden Menschen aufzunehmen, wäre schon für sich genommen ein Armutszeugnis sozialer Versorgung. In Verbindung mit dem Strafvollzug gerät es jedoch zu einem exemplarischen Beispiel für einen doppelten Ausschlusse: erst Gefängnis, dann Verstoßung aus der zivilen Gesundheitsversorgung.

Erst als das Gericht die Kostenübernahme für ein Hospiz durch die Staatskasse anordnet, entsteht überhaupt eine minimale Chance auf Aufnahme, nicht etwa als Selbstverständlich­keit öffentlicher Fürsorge, sondern als eine juristisch konstruierte Ausfallhaftung des Staates.

Eine Gesellschaft, welche jahrzehntelang einsperrt, übernimmt offenbar keinerlei Verantwortung für ihr Sterben.

Der Tod als letzter Ausweg aus der Verwahrung

Es ist kein Zufall, dass der Beschluss fast beiläufig erwähnt, der Lothar könne ohne Hospiz auch freiwillig im Gefängnis (vgl. § 18 HSVVollzG) sterben. Diese Möglichkeit steht im Raum wie ein düsteres Warnzeichen: Der Staat ist bereit, einen sterbenden Menschen bis zum letzten Atemzug zu verwahren, wenn das Entlassungsszenario organisatorisch nicht aufgeht. Es ist die stillschweigende Anerkennung dessen, was seit Jahren Realität ist: Viele Gefangene sterben im Vollzug, weil die gesetzlichen Möglichkeiten der Haftunterbrechung oder Haftverschonung kaum genutzt werden. Vor über 10 Jahren hatte ich über Willi berichtet, dessen Sterben in Haft ich hautnah verfolgte, ihm wurde keine Haftverschonung gewährt.

Lothar, wie Willi, stehen exemplarisch für eine Politik des „Wegschließens bis zum Tod“.

Die Grenzlinie zwischen „Gefährlichkeit“ und Menschenwürde

Die drei Richter:innen des Landgerichts Marburg argumentieren selbst im Angesicht des Todes mit der Möglichkeit verbaler Aggressionen, Beleidigungen und sexualisierter Anzüglichkeiten. Dass diese, als „verbale Grenzverletzungen“, überhaupt eine Rolle spielen, zeigt, wie eng das Gefahrenraster gefasst bleibt. Die Entscheidung befindet sich in einem Spannungsfeld: Einerseits wird klar benannt, dass körperliche Gewalt nicht mehr möglich ist. Andererseits wird die Persönlichkeitsstruktur weiterhin pathologisiert, und die Zukunftsprognose bleibt trotz des prekären Zustands von Sicherheitsrisiken bestimmt.

Diese Konstellation führt zu einem grundsätzlichen Problem: Der Anspruch auf Menschenwürde und die Frage, ob ein Mensch in Freiheit sterben darf, wird rechtlich durch die Brille der Gefährlichkeit betrachtet. Die Logik der Sicherheitsverwahrung ist nicht fähig, Sterben als Menschenrecht zu begreifen.

Was sagt Lothars Fall über das System?

Der Beschluss ist mitnichten ein Sieg der Humanität im Angesichts des Todes. Das Landgericht dokumentiert, trotz der angeordneten Freilassung, die juristische Verwaltung eines Versagens. Er zeigt, dass:

  • die Sicherungsverwahrung faktisch lebenslang vollstreckt wird,
  • die Gefängnisse denkbar schlecht vorbereitet sind auf Krankheit und Sterben,
  • Hospize und Kliniken Gefangene als „Fremdkörper“ betrachten,
  • Entlassungen oft erst dann erfolgen, wenn der Körper zusammenbricht,
  • Menschenwürde nachrangig gegenüber Sicherheitslogiken ist.

Eine linke Perspektive: Abschaffung der Verwahrlogik

Aus einer linken und grundsätzlich gefängniskritischen Perspektive weist Lothars tödliche Erkrankung und sein Tod über sein individuelles Schicksal hinaus: Die Sicherungsverwahrung ist kein reformierbares Instrument, sondern Ausdruck eines Systems, das Menschen nicht „resozialisiert“, sondern verwahrt und verwaltet. Darüber hinaus ist es ein System das in zentralen Bereichen strukturelle Gewalt ausübt. Die vermeintliche „Ultima Ratio“ zeigt sich in der Praxis als lebenslange Verlängerung eines Vollzugs, der weder Altern noch Krankheit, weder psychische Krise noch Sterben sozial angemessen auffängt. Wer wie Lothar erst im präterminalen Stadium, also Tage vor seinem Tod, aus der Verwahrung entlassen wird, ist Beispiel für eine Praxis, die Menschen erst dann freigibt, wenn der Körper als Gefährdungsträger ausfällt. Damit wird die Frage nach Freiheit nicht an Würde und Menschenrechten orientiert, sondern an körperlicher Funktionsfähigkeit und Prognosen.

Wenn der Staat erst angesichts medizinischer Unabwendbarkeit bereit ist, Freiheit auch für als „gefährlich“ klassifizierte Menschen in Betracht zu ziehen, verweist das auf ein fundamentales Problem: Die Gefährlichkeitslogik dominiert so sehr, dass Krankheit und Sterben nur als Faktoren in einem Risikomanagement berücksichtigt werden. Eine humanere Politik müsste dagegen grundsätzlich sicherstellen, dass sterbende und schwerkranke Gefangene frühzeitig und bedingungslos entlassen werden, weil ihr Leben und Sterben nicht an institutionelle Sicherheitsroutinen delegiert werden darf. Ebenso bedarf es einer Versorgungsstruktur, die den Übergang von Haft zu Palliativversorgung nicht von der Gnade einzelner Hospize abhängig macht. Eine soziale Gemeinschaft, die Verantwortung ernst nimmt, darf Menschen nicht im institutionellen Niemandsland zwischen Gefängnis, Obdachlosigkeit, Klinik und Hospiz aufreiben.

Der vorliegende Beschluss zeigt damit nicht nur das Elend eines Einzelfalls, sondern offenbart tiefer liegende strukturelle Missstände: Die Verwahrlogik ist blind gegenüber existentiellen Lebenslagen, sie produziert Ausschluss statt Fürsorge und organisiert Tod eher als Risiko denn als menschliche Realität. Von einer linken Perspektive aus kann die Antwort darauf nicht etwa in einer institutionellen Optimierung liegen, sondern in einer grundlegenden Abkehr von Systemen wie Gefängnis, Sicherungsverwahrung und anderen Orten der Verwahrung. Humanität darf nicht erst im Endstadium einsetzen. Sie muss am Anfang stehen!

Anmerkung:
Der Beschluss des Landgerichts kann in anonymisierter Fassung hier als PDF heruntergeladen werden.

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Jahrzehntelange Einzelhaft in Deutschland – Eine notwendige sozialarbeiterische Untersuchung

Hauke Kröger hat im Rahmen seiner kürzlich an der Internationalen Hochschule eingereichten Bachelorarbeit über jahrzehntelange Einzelhaft in Deutschland ein seltenes Dokument in der deutschen Sozialarbeitslandschaft vorgelegt. Selten nicht, weil das Thema neu wäre, Isolationshaft gab es in der Bundesrepublik schon immer, und sie existiert bis heute, sondern weil Sozialarbeiter*innen in Deutschland darüber weitgehend schweigen. Während in den USA abolitionistische Netzwerke wie SWASC lautstark gegen Isolationshaft (Solitary Confinement) auftreten, bleibt die deutsche Soziale Arbeit erstaunlich stumm. Krögers Arbeit schließt diese Lücke: wissenschaftlich präzise, aber politisch klar: Einzelhaft ist kein Randphänomen, sondern strukturelle Gewalt.

Wie die Arbeit vorgeht

Die Studie basiert auf selten zugänglichem Material: Gerichtsakten, Vollzugsplänen, psychiatrischen Gutachten, Stellungnahmen und persönlichen Schreiben dreier Gefangener, die jeweils über ein Jahrzehnt, in einem Fall fast drei Jahrzehnte, isoliert festgehalten wurden. Einer der Gefangenen, Christian Bogner, sitzt, mittlerweile 70 Jahre alt, seit über 21 Jahren ununterbrochen in Isolationshaft.

Diese Dokumente werden mit den berufsethischen Kodizes der Sozialen Arbeit (DBSH, IFSW) abgeglichen. Der Autor bewegt sich dabei nicht im luftleeren Raum akademischer Begriffe, sondern stellt die Frage: Verstößt jahrzehntelange Einzelhaft gegen grundlegenden Werte der Sozialen Arbeit?

Sein Vorgehen: Die geringe Fallzahl wird nicht als Problem, sondern als Chance verstanden, Einzelfälle tiefergehend auszuwerten. Die qualitative Methodik erlaubt es ihm, die Lebensverläufe der Betroffenen zu rekonstruieren – und sie nicht als „gefährliche Täter“ zu betrachten, sondern als Menschen, die durch den Staat systematisch eines zentralen menschlichen Grundbedürfnisses beraubt wurden: der sozialen Beziehung.

Was Einzelhaft bedeutet

Die Arbeit macht unmissverständlich deutlich, was „unausgesetzte Absonderung“ in der Praxis bedeutet: mindestens 23 Stunden täglich allein in einer Zelle, keine Mitgefangenen, eingeschränkte Besuche, oft nur hinter Trennscheibe, kaum körperliche Nähe, kaum Stimuli. Das Gesetz mag das als „besondere Sicherungsmaßnahme“ definieren; in der Realität bedeutet es sensorische Verarmung, psychische Destabilisierung und im schlimmsten Fall den Verlust des Bezugs zur Realität.

Besonders eindringlich ist die Beschreibung, wie Isolation die „Lebenstüchtigkeit“ abbaut. In einem Fall attestieren Gutachten einen schleichenden Verlust des Realitätsbezugs nach Jahren ohne soziale Interaktion. In einem anderen Fall wird Isolation zur „Routine“ – nicht, weil sie erträglich ist, sondern weil der Mensch beginnt, sich an die Bedingungen der eigenen Deprivation anzupassen. Jenen denen diese Anpassungsleistung nicht gelingt, laufen Gefahr zu sterben. Dass das keine Übertreibung ist, wird bei einem Blick in die Rechtsprechung deutlich. Es finden sich nicht viele Fundstellen, denn kaum einem Gefangenen gelingt es, sich vor Gericht Gehör zu verschaffen, aber es gibt eine wichtige Entscheidung des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 1999: ein seit Jahren in Isolation gehaltener Gefangener drohte an der Isolationshaft zu sterben. Der Gefängnisarzt, so beschreibt es das Bundesverfassungsgericht, habe bescheinigt: „dass erhebliche Bedenken bestünden, ob der Beschwerdeführer unter diesen Bedingungen noch weiter überleben könne. Es seien Zeichen einer tiefen Depression zu sehen. Eine Depression könne auch ohne Selbstmord zum Tode führen. Die Depression könne durch eine Gesprächstherapie oder durch Medikamente nicht behoben werden.“

Hauke Kröger gelingt es eindrücklich in seiner Arbeit aufzuzeigen, wie zynisch die staatliche Logik wird: Isolation erzeugt psychische Beeinträchtigungen, die anschließend als Begründung genutzt werden, um Isolation fortzusetzen.

Strukturelle Gewalt – gutachterlich legitimiert

Die Arbeit dokumentiert außerdem ein System, das institutionelle Gewalt durch Gutachten absichert. Die Gefährlichkeit der Gefangenen wird über Jahre nahezu unverändert behauptet, obwohl dieselben Akten von stabilen Verhaltensverläufen, positiven sozialen Kontakten oder Therapieerfolgen berichten. Besonders problematisch wirkt die Praxis der sogenannten Rotationsverlegungen: Gefangene werden immer wieder zwischen verschiedenen Sicherheitsstationen verschoben, was soziale Kontakte massiv erschwert. Die Bachelorarbeit analysiert dies als Form der strukturellen Bestrafung – und als Belastung, die gleichzeitig Angehörige trifft, die teils hunderte Kilometer reisen müssen. Wieder zeigt sich: Isolation trifft nie nur die Gefangenen.

Ethische Kritik: Was bedeutet Menschenwürde?

Ausgehend von den ethischen Leitlinien der Sozialen Arbeit zieht der Autor der Arbeit eine klare Bilanz:

  • Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch unbefristet eingesperrt und gleichzeitig unbefristet isoliert wird. Hoffnungslosigkeit ist keine legitime staatliche Maßnahme.
  • Soziale Beziehungen: laut DBSH zentral für ein gelingendes Leben, so werden diese systematisch von den Gefängnissen, jeweils mit Zustimmung der übergeordneten Justizministerien, unterbunden. Körperliche Nähe, gemeinsames Kochen, körperliche Berührung bei Besuchen – all das wurde in den untersuchten Fällen über viele Jahre verhindert.
  • Partizipation: ein Kernprinzip der Sozialen Arbeit, ist praktisch ausgeschlossen. Der Tagesablauf, soziale Kontakte, Therapie, Bildung: Alles wird vollständig von außen bestimmt.
  • Soziale Gerechtigkeit: wird unterlaufen, wenn Bildungsangebote nicht zugänglich sind, weil Gefangene isoliert sind.
  • Ungerechtigkeit: wird sichtbar, wo Einschränkungen nicht verhältnismäßig oder nicht nachvollziehbar begründet sind, etwa bei Trennscheibenbesuchen oder der Weigerung, trotz jahrelangen tadellosen Vollzugsverlaufs, eine Rückverlegung in den Regelvollzug zu veranlassen.

Politische Einordnung

Der besondere Wert der Arbeit liegt darin, dass Hauke Kröger die Fälle nicht individualisiert. Es geht nicht um „gefährliche Täter“, sondern um die Frage, wie ein dieser Staat mit Menschen umgeht, denen er die Freiheit entzieht. Isolationshaft erscheint dabei nicht als ultima ratio, sondern als Routineinstrument. Der Befund ist deutlich: Einzelhaft, in Gestalt jahrelanger unausgesetzter Absonderung von anderen Gefangenen,erscheint dabei als ein blinder Fleck der deutschen Öffentlichkeit und ein aktives Versagen der Sozialen Arbeit, die sich viel zu oft in institutioneller Loyalität einrichtet, statt sich an Menschenwürde, Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit zu orientieren.

Fazit

Die Bachelorarbeit ist ein präzise recherchiertes, mutiges und politisch relevantes Stück Forschung. Sie zeigt, wie sehr Isolationshaft menschenfeindliche Strukturen reproduziert – und wie dringend eine sozialarbeiterische, menschenrechtlich fundierte Kritik notwendig ist. Die Studie ist kein rein akademisches Werk, sondern auch ein solidarischer Beitrag zur Sichtbarkeit derjenigen, die hinter Mauern jahrzehntelang isoliert werden und deren Stimmen so gut wie nie gehört werden.

Eine solche Arbeit erscheint mir nicht nur wissenschaftlich bedeutsam, sondern politisch notwendig. Sie erinnert daran, dass selbst im Gefängnis der Staat an Menschenrechte gebunden sein sollte- und dass Solidarität dort beginnen muss, wo Menschen nicht einmal mehr die Möglichkeit haben, eine Hand zu halten oder ein Gespräch ohne Glaswand zu führen.

Die Bachelorarbeit findet sich hier als PDF.

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Gericht wirft Berliner Polizei Rechtsbruch vor– Filmen von Polizeieinsatz zulässig!

Das Verwaltungsgericht (VG) Berlin hat Ende September entschieden, dass die (Berliner) Polizei einem Bürger nicht verbieten durfte, einen Polizeieinsatz zu filmen. Im Zusammenhang mit einer Demonstration im Vorfeld der Urteilsverkündung im „Antifa-Ost-Verfahren-1“ gab es in Berlin-Kreuzberg eine Kundgebung. Nach Ende der Versammlung nahm die Polizei einen Teilnehmer ins Visier- als dies eine andere Person filmte, wurde ihr dies untersagt, die Festnahme angedroht und das Handy nach unten gedrückt. Wie das VG feststellte: rechtswidrig!

Die Vorgeschichte

Nach Feststellungen der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 23.09.2025, trug sich Ende Mai 2023 in Kreuzberg folgendes zu:

„Der Kläger nimmt regelmäßig an Versammlungen aus dem linken und ökologischen Spektrum teil, so auch am 31. Mai 2023 an der Versammlung mit dem Thema „Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Verfahren. Solidarität mit Lina E. und allen politischen Gefangenen“ im Berliner Ortsteil Kreuzberg. Nach Ende der Versammlung hielten mehrere Beamte der Polizei Berlin, von deren Gesichtern wegen ihrer Schutzausrüstung jeweils nur die Augenpartie erkennbar war, einen früheren Versammlungsteilnehmer auf der Mittelinsel der Gneisenaustraße im Kreuzungsbereich mit dem Mehringdamm an. Während ein Beamter mit dem Betroffenen sprach, bildeten mehrere andere Polizisten um ihn einen Kreis. Der Kläger zeichnete dieses Geschehen mit der Kamerafunktion seines Handys in Bild und Ton von der Seite her auf. Als er seine Position etwas veränderte, kam ein Beamter der Polizei Berlin auf ihn zu und forderte ihn auf, das Aufzeichnen einzustellen. Zur Begründung verwies der Polizist darauf, dass es sich um das nichtöffentlich gesprochene Wort handele, sowie auf datenschutzrechtliche Belange. Anschließend drohte er dem Kläger die Festnahme an und drückte das von diesem gehaltene Handy nach unten, woraufhin er die Aufnahme nach einer Minute und 45 Sekunden beendete.“

Die Klage und das Urteil

Mit Klage vom 26. Juli 2023 beantragte der Betroffene, diese Vorgehen der Polizei für rechtswidrig zu erklären. Es bestehe Wiederholungsgefahr und das polizeiliche Handeln sei vom Gesetz nicht gedeckt.

In vollem Umfang gab das VG Berlin der Klage statt. Mit Urteil vom 23.09.2025 entschied das Gericht, dass „die am 31. Mai 2023 von einem Beamten der Polizei Berlin gegenüber dem Kläger ausgesprochene Aufforderung, das Aufzeichnen einer polizeilichen Maßnahme in Bild und Ton mit seinem Handy zu unterlassen, und das anschließende Herunterdrücken des von ihm gehaltenen Handys durch den Polizeibeamten rechtswidrig waren“.

Begründung des Verwaltungsgerichts

Das VG nimmt in seinem Urteil Bezug auf die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung. Entscheidend ist, dass das filmen „eines Polizeieinsatzes grundsätzlich zulässig“ sei, sofern von der filmenden Person keine konkrete Beeinträchtigung ausgehe.

Auch das von der Polizei, so auch hier, angeführte Argument, es würde in strafbarer Weise das nicht-öffentlich gesprochene Wort aufgezeichnet, überzeugte das Gericht nicht: bei einem öffentlich sichtbaren Polizeieinsatz auch vorbeigehende Passant:innen die Worte der Polizeikräfte hören, sei keine „Nichtöffentlichkeit“ gegeben; aber nur die Aufzeichnung des nicht-öffentlich gesprochenen Worts sei strafbar.

Schließlich habe der Kläger auch in berechtigtem Interesse Dritter gehandelt, nämlich im Interesse des von dem eigentlich Polizeieinsatz betroffenen Menschen. Dazu die Kammer in deutlichen Worten: „Angesichts des regelmäßig gegebenen Kräfteungleichgewichts zwischen dem Betroffenen einer polizeilichen Maßnahme und den zahlenmäßig überlegenen Polizeibeamten besteht grundsätzlich ein berechtigtes Interesse an einer objektiven Beweissicherung. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich die vorangegangene Versammlung kritisch mit einem vermeintlich politisch motivierten Strafprozess auseinandergesetzt hatte. Dass die Versammlungsteilnehmer in diesem Kontext ein Bedürfnis nach gesteigerter Transparenz gegenüber der von ihnen kritisierten Staatsgewalt sehen, ist nachvollziehbar.“

Auswirkungen des Urteils

Ob das Urteil rechtskräftig wird bleibt abzuwarten. In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages aus dem Jahre 2022 (hier als PDF) wird auch argumentiert, dass das bloße Anfertigen der Bildaufnahmen nicht strafbar sei und bei Tonaufnahmen dann eine Strafbarkeit vorliegen könnte, wenn „die aufgenommenen Worte des Polizeibeamten nach seinem Willen nichtöffentlich sein sollten und auch faktisch keine Mithörmöglichkeiten für unbeteiligte Dritte bestanden“. Gerade an letzterem wird es oft Fehlen, denn bei in der Öffentlichkeit stattfindenden Einsätzen können immer Passant:innen vorbei laufen und hören was gesagt wird. Damit entfällt die „Nichtöffentlichkeit“.

Ob Öffentlichkeit oder Nichtöffentlichkeit vorliegt, darüber gehen oftmals die Ansichten auseinander. So urteilte das Oberlandesgericht Zweibrücken im Jahr 2022, dass bei einer nächtlichen Kontrolle, auch wenn 15-20 Personen anwesend seien, keine „faktische Öffentlichkeit“ vorliege.

Es kann also durchaus passieren, dass das Handy von der Polizei ersteinmal „sichergestellt“ wird und dabei seitens der Polizei auch Gewalt angewendet wird, denn wen kümmert, ob Jahre später (im Berliner Fall: über zwei Jahre nach dem bedrohlichen Verhalten der Polizei) ein Verwaltungsgericht feststellt, ein Polizeieinsatz sei rechtswidrig gewesen.

Trotzdem sollte der Beschluss dazu ermuntern, wenn Polizeieinsätze beobachtet werde, zumal wenn es zu Gewalt durch die Polizist:innen kommt, diese Einsätze zu dokumentieren.

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Antifaschistischer Selbstschutz ist notwendig! Die ersten Prozesstage im Antifa-Ost-Verfahren

Ein frostiger Prozessbeginn, in einem Großverfahren gegen Antifaschist:innen. Es ist Dienstag, der 25. November 2025, es hat leicht geschneit, die Schilder, „Im Zweifel für die Antifa“ und andere Aufschriften, stehen in den Schneeresten an dem Fahrradständer vor dem bunkerartigen Prozessgebäude des Oberlandesgerichts Dresden.

Worum geht es in der Anklage

Der Generalbundesanwalt (GBA) hat das gesamte Verfahren im sogenannten „Antifa-Ost-Komplex“ schon vor Jahren an sich gezogen und wirft den in Dresden vor Gericht stehenden sieben Antifaschist:innen vor, „als Mitglieder oder Unterstützer – (..) einer spätestens Ende 2017/Anfang 2018 in und um Leipzig gegründeten Vereinigung, deren Mitglieder eine militante linksextremistische Ideologie teilten“, Neonazis körperlich angegriffen zu haben. Kennzeichend für diese „Vereinigung“ und deren Mitglieder:innen sei „die Ablehnung des bestehenden demokratischen Rechtsstaates, des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung sowie des staatlichen Gewaltmonopols ein. (…) Die Aktionen wurden in der Regel intensiv vorbereitet. Sie schlossen etwa im Vorfeld die Ausspähung der Lebensgewohnheiten der ausgewählten Tatopfer ein.“

Der Eingang zu Gericht

Schon das erste „Antifa-Ost-Verfahren“ fand in dem bunkerartigen Sondergerichtsgebäude am Hammerweg in Dresdden statt, Mauer an Mauer mit der Justizvollzugsanstalt, und neben dem Polizeirevier-Nord. Die ersten dutzend Menschen standen schon um 7:30 Uhr vor dem Gerichtseingang. Die Menschen unterhalten sich, manche kennen sich, andere machen sich neu bekannt. Von der gegenüberliegenden Strassenseite filmt der ehemalige stellvertretende NPD-Chef Sebsatian Schmidtke und streamt live.

Plötzlich geht die Türe des Eingangs auf und ein Mann in Zivilkleidung und mittleren Alters stürmt heraus, reißt die eingangs erwähnten Schilder an sich und will zurück in das Gerichtsgebäude. Hier auf dem Vorplatz sei keine Kundegebung erlaubt. Ein körperlich den Mann überragender Prozessbesucher insistiert, er solle die Schilder zurückgeben, die seien hier nur abgestellt worden. Irgendwer erkennt den energisch agierenden Beamten: Matthias Landerer, „Leiter Zentrale Dienste“, für die Sicherheit zuständig. Murren und Protestrufe aus dem Kreis der wartenden Zuschauer:innen, Landerer wird patzig! Wenn sich der Prozessbesucher der sich mit in die Türe stellte nicht sofort zurück trete, werde das Konsequenzen haben. Ein Dresdner Rechtsanwalt schaltet sich ein, diskutiert mit Landerer- am Ende gibt dieser die Schilder zurück und weist darauf hin, dass die angemeldete Kundgebung auf der anderen Straßenseite durchzuführen sei. Landerer sollte noch weitere Auftritte in den kommenden Stunden und Prozesstagen haben.

Pünktlich um 08:00 Uhr öffnet sich die Panzerglastüre für die ersten Besucher:innen- währenddessen harrten solidarische Antifaschist:innen in der Kälte, im Rahmen einer Kundgebung, vor dem Gerichtsgebäude aus. Es gab kämpferische Redebeiträge und Musik- sowie Kaffee gegen die Kälte!

Die Kontrollen

Alle Besucher:innen werden gründlich abgetastet, müssen Mäntel, Jacken, Schals ablegen, dann folgt der Gang durch einen Scanner und anschließend nochmal eine Kontrolle mit Sonde und Abtasten. Schuhe ausziehen, Kontrolle, dann Schuhe anziehen. In den Gerichtssaal darf nichts mitgenommen werden, abgesehen von Stift und Papier, bzw. für die Raucher:innen der Tabak (die Feuerzeuge jedoch nicht, so dass Justizwachtmeister:innen um Feuer gebeten werden müssen). Die Journalist:innen werden genauso streng kontrolliert, dürfen jedoch alles mitnehmen, müssen aber Taschen im Presseraum zwischenlagern.

Der Saal

Der Weg zum Saal wird bewacht von einigen, meist grimmig und entschlossen dreinblickenden Sicherheitsbeamt:innen des Gerichts.

Platz ist im Zuschauer:innenbereich für rund 150 Besucher:innen. Vom eigentlichen Gerichtssaal sind sie durch eine hohe Glasscheibe abgetrennt, die jedoch nicht bis zur Decke reicht. Die Stühle sind fest miteinander verbunden. Langsam füllt sich der Zuschauer:innenbereich. Der Prozessbeginn verschiebt sich, denn zu viele Menschen stehen noch am Eingang. Als Zuschauer:in sieht man vieles durch die Scheibe nur schwer, denn diese spiegelt ziemlich. Von der Decke hängen mehrere große Monitore, ebenso Brandmelder und Kameras. Dazu versperren tragende Säulen mancherorts den Blick.

Für 09:30 Uhr ist der Prozessbeginn angesetzt, aber der Protokollführer des OLG informiert per Durchsage, man warte noch bis alle Interessierten durch die Kontrollen gelangt sind. Peu a peu tröpfeln die Rechtsanwält:innen der Angeklagten ein, aber auch die der Nebenklage, darunter die schon aus dem NSU-Verfahren berüchtigte Nicole Schneiders. Jetzt folgt aber erstmal der nächste Auftritt von Matthias Landerer (hier auf dem Bild der Mann ganz rechts): eskortiert von mehreren Uniformierten klettert er behende auf einen Stuhl und spricht. Er vertrete hier das Hausrecht und werde alle entfernen (lassen) die den Prozess stören. Keine Einwände habe er, wenn vor Prozessbeginn Solidaritätsbekundungen erfolgen, aber wehe während der Hauptverhandlung: „Danach ist Ruhe!“, so Landerer.

Dass es gleich los gehen wird, erkennen alle, als Fotograf:innen und Kameraleute in den Saal kommen. Eine große Seitentüre öffnet sich und einzeln, an den Händen gefesselt, jeweils von drei Bediensteten aus dem Gefängnis bewacht, werden Tobi, Paul, Johann und Thomas an Ihre Plätze geführt. Der Jubel ist jedes Mal groß im Publikum: Klatschen, Rufe („Free, Free, Antifa“, „Freiheit für alle Gefangenen“) kommen auf, es wird gewunken. Die Angeklagten wirken etwas aufgeregt. Fast alle halten sich etwas vors Gesicht, um nicht abgelichtet, oder wie es einer der Fotografen im Presseraum formuliert „abgeschossen zu werden“. Vier, manchmal fünf Sicherheitsbeamte sitzen den ganzen Tag mit im Bereich der Prozessbesucher:innen, und um die zehn hinter den Angeklagten und an den Wänden des Gerichtssaals. Die drei Angeklagten die sich in Freiheit befinden, werden ebenfalls mit Jubel begrüßt: Melissa, Julian und Henry.

Dann treten sieben Richter:innen ein, und der Prozess beginnt.

Prozessbeginn – 1. Tag

Es ist 10:20 Uhr als der Vorsitzende Richter Joachim Kubista den Prozess eröffnet. Er stellt die die Namen der Richter:innen vor (zwei von ihnen sind sogenannte „Ergänzungsrichterinnen“, denn sollte in den kommenden 2 Jahren einer des eigentlich aus nur fünf Richter:innen bestehenden Senats ausfallen, würden diese einspringen), ebenso der anderen Prozessbeteiligten und insbesondere der Angeklagten, deren Geburtstage, Familienstand und berufliche Tätigkeit. Anwesend sind auch zwei Mitarbeitende der Jugendgerichtshilfe Leipzig, da eine der Angeklagten zum angeblichen Tatzeitpunkt Heranwachsende gewesen ist.

Dann folgen die ersten Anträge der Verteidigung, sie wollen u.a. die Aussetzung des Prozesses beantragen und verlangen hierzu Gelegenheit. Das will aber der Richter Kubista nicht, sie mögen die Anträge später stellen. Eine erste Unterbrechung von 10 Minuten wird angeordnet, damit der Senat beraten kann.

Anschließend verkündet der Vorsitzende, dass die Anträge auch nach Ansicht des gesamten Senats später gestellt werden können, jetzt folge zuerst die Anklageverlesung.

Die Anklageverlesung

Bundesanwalt Bodo Vogtler, Staatsanwältin Alexandra Geilhorn und Staatsanwältin Nina Uhl werden bis 12:00 Uhr abwechselnd die Anklage verlesen, dann folgt eine längere Mittagspause und nachdem um 13:12 Uhr die Verhandlung fortgesetzt wird, sollte es eine weitere halbe Stunde dauern, bis alle Vorwürfe verlesen sind.

Die Vorwürfe die alle vereint, ist die angebliche Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB). Als Teil einer „Linksextremen kriminellen Vereinigung“, sei es in wechselnder Zusammensetzung zu Angriffen auf Neonazis insbesondere in Ostdeutschland, darunter in Leipzig, Roslau, Eisenach, aber auch in Dortmund sei es zu einer Attacke gekommen.

Einige der Antifaschist:innen sollen sich darüber hinaus im Februar 2023 an Körperverletzungshandlungen in Budapest, anlässlich des „Tags der Ehre“ beteiligt haben.

Es sei teilweise zu Mordversuchen gekommen: „heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen“, so die Bundesanwaltschaft sei beispielsweise am 10.2.2023 agiert worden.

Die Anträge der Verteidigung

Nach der Verlesung der Anklage erhalten die Anwält:innen ausführlich Gelegenheit ihre gewünschten Anträge auf Aussetzung des Prozesses, zumindest auf Unterbrechung, auf vollständige Aktieneinsicht und auch auf Klärung der Frage, ob behördliche Prozessbeobachter:innen im Saal sitzen und welchen Einfluss die Einstufung von „Antifa-Ost“ durch die USA als „Terrororganisation“ für die Angeklagten habe.

Die Aussetzung des Verfahrens sei schon wegen fehlender umfassender Akteneinsicht geboten, eine angemessene Vorbereitung sei durch das Gericht und die Bundesanwaltschaft vereitelt worden, dies verstoße gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens. So sei wenige Tage vor Prozessbeginn eine Festplatte mit 700 GB Daten übergeben worden, dies auch nur ansatzweise durchzuarbeiten sei schon zeitlich unmöglich.

Hinsichtlich der vermuteten staatlichen Prozessbeobachter:innen möge geklärt werden, ob Mitarbeiter:innen von Verfassungsschutzämtern, oder BKA, LKA im Saal sitzen, denn wenn dem so wäre, würde das mögliche Zeug:innen beeinflussen können. Zumal wenn damit gerechnet werden müsse, dass es dann einen Informationsfluss in Richtung USA gebe. Zudem könne es zu einen unzulässigen „Wissenstransfer“ zum Beispiel an den Kronzeugen Domhöver geben, einen sogenannten „Aussteiger“, der Antifaschist:innen bei den Sicherheitsbehörden denunzierte und schon im ersten Antifa-Ost-Verfahren maßgeblich an der Verurteilung mitwirkte. Zumindest sei Mitarbeitenden das Mitschreiben zu untersagen.

Im übrigen müsse vorab geklärt werden, ob ihre Mandant:innen auch als Einzelpersonen von den USA, im Rahmen der Einstufung von „Antifa-Ost“ als „Terrororganisation“, ggf. überwacht würden, oder Sanktionen zu erwarten hätten, denn dies sei für etwaiges Aussageverhalten ebenso von Relevanz, wie später, sollte eine Verurteilung erfolgen, bei der Strafzumessung.

Erwiderung der Bundesanwaltschaft (BAW)

Die BAW beantragt, alle Anträge zurückzuweisen. Es sei ausreichend Akteneinsicht gewährt worden, ob Prozessbeobachter anwesend seien, dies sei irrelevant, denn auch sie wären als Teil der Öffentlichkeit zu behandeln. Wie zudem die USA auf das Verfahren schaue, dies sei gänzlich ohne prozessuale Relevanz.

Erste Opening-Statements

In besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird, dürfen Angeklagte, bzw. deren Verteidiger:innen ein „Opening Statement“ abgeben (§ 243 Absatz 5 StGB). Gelegentlich wurde während der Erklärungen geklatscht, was seitens des Herrn Landerer, wir erinnern uns, dem der schon die Schilder einkassieren wollte, mehr Unmut hervorrief als beim Vorsitzenden. Letzterer kommentierte zu Anfang eher noch jovial mit „Eigentlich wollte ich das Publikum für die Disziplin loben…“.

Die Verteidigung von Tobi macht geltend, dass ihr Mandant in Ungarn schon wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden sei, weshalb ihn nicht Deutschland nochmal deswegen anklagen dürfe und bezieht sich damit auf das „Doppelbestrafungsverbot“ (niemand darf zwei Mal wegen der selben Tat verurteilt werden). Zudem seien die Haftbedingungen denen ihr Mandant zwei Jahre lang in Ungarn ausgesetzt gewesen sei, menschenunwürdig gewesen: im Winter gab es das Verbot sich tagsüber in eine Decke zu wickeln, 24h/Tag Videoüberwachung, Hofgang nur auf dem Dach, umgeben von Lochgittern und von Fäkaliengestank umweht.

Weitere Verteidiger:innen fordern u.a. die Einstellung des Verfahrens, weil die Tatvorwürfe die behauptet werden marginal sind und lange zurück liegen, so beispielsweise eine Anwältin von Melissa K., der Beihilfe zu einer Körperverletzung in dem sie ein Tatopfer geholfen habe „auszuspähen“. Noch im ersten Antifa-Ost-Verfahren sei ihr von eben jenem Senat vor dem jetzt verhandelt werde, es verwehrt worden, sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen: im Frühjahr 2020 sollte Melissa K. als Zeugin aussagen, als sie unter Hinweis auf ihr Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, dies ablehnte, wurde sie mit mehreren hundert Euro Ordnungsgeld belegt. Kurz danach sei umfangreiche gegen ihre Mandantin ermittelt worden, mit einem ungleich höheren Aufwand, als es z.B. Opfer von Vergewaltigungen oder von Polizeigewalt erleben dürften. Dort werde, wenn überhaupt, nur zögerlich ermittelt und regelmäßig eingestellt. Das sei bspw. Auch wegen der dem Kronzeugen Domhöver vorgeworfenen Sexualstraftaten nicht anders gewesen: Verfahrenseinstellung!

Die Verteidigung von Thomas verlas abschließend zum 1. Prozesstag eine zehnseitige Schrift, in der sie die Einstellung der Verfahren durch Urteil forderte. Das OLG sei sachlich garnicht zuständig, denn die Vorwürfe hätten nicht, wie gesetzlich vorgesehen, eine „besondere Bedeutung“. Diese habe die BAW willkürlich angenommen. Nacy Faser, die damalige Bundesinnenministerin, habe allerdings nach der Festnahme ihres Mandanten (Pressemitteilung des GBA) eine Meldung der tagessschau retweetet und von einem „wichtigen Ermittlungserfolg“ gesprochen und ihren Mandanten öffentlich vorverurteilt. Nach alledem bestehe ein Prozesshindernis, das Verfahren sei durch Urteil jetzt einzustellen.

Nach diesem Statement ging ein langer Prozesstag zuende.

Prozessbeginn – 2. Tag

Der zweite Prozesstag begann erst gegen 11:20 Uhr, und diesmal waren keine 100 Menschen im Saal, sondern um die 30. Wie am Vortag wurden auch diesmal die angeklagten Antifaschist:innen mit stehendem Applaus und Rufen begrüßt, und auch wenn bei Gerichtspausen diese wieder abgeführt werden, brandet, wie gestern schon, Beifall auf.

Der Vorsitzende eröffnet den 2. Prozesstag mit dem Hinweis, er habe keine Kenntnis von behördlichen Prozessbeobachter:innen, hierzu werde er aber auch keine Ermittlungen anstellen, denn auch solche Beobachter:innen hätten im Rahmen der Öffentlichkeit ein Anwesenheitsrecht.

Über die Klärung von Fragen hinsichtlich der Listung von „Antifa-Ost“, werde der Senat auch nichts unternehmen, denn das sei irrelevant. Bezüglich der unzureichenden Akteneinsicht sei auch keine Aussetzung des Verfahrens nötig.

Der Vorsitzende liest den Beschluss vor, als plötzlich das Licht ausgeht.

Stromausfall im Gericht

11.17 Uhr, und alle sitzen im Halbdunkel. Die Sicherheitsbeamten drücken auf ihre Funkgeräte, stehen auf, umringen die Angeklagten, blicken aufgeregt nach allen Seiten, als würde plötzlich ein Befreiungskommando irgendwo eindringen. Der Vorsitzende unterbricht sofort die Verhandlung bis 13:00 Uhr. Es wird gerätselt was den Stromausfall verursacht hat, vielleicht solidarische Genoss:innen die das Viertel vom Netz getrennt haben- denn auch im Gefängnis gingen die Lichter aus. Später stellte sich heraus, dass bei Bauarbeiten ist vermutlich ein Kabel beschädigt worden.

Das Licht geht an und der Prozess weiter

Fast pünktlich, kurz nach 13 Uhr, geht der zweite Prozesstag weiter. Die folgenden zwei Stunden werden nacheinander Tobi, Julian und Thomas sprechen und die Anklage der BAW politisch einordnen, ohne sich jedoch zu eigener Beteiligung zu äußern. Stellenweise wird sehr berührend, und auch bedrückend.

Tobi spricht

Tobi beginnt mit Zitaten aus der Anklage: angeblich würde die konstruierte Vereinigung den demokratischen Rechtsstaat ebenso ablehnen, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es seien Neonazis, wie jene in Eisenach, die den Bürgerkrieg auslösen wollten, die Menschen auslöschen wollten. Eine „entschlossene Gegenwehr“ hiergegen sei überlebensnotwendig und keine kriminelle Handlung.

Es gebe eine Komplizenschaft des Staate bei rechtem Terror, und es sei die Regierung die hier die Verantwortung trage. Würde es der „Klassen- und Gesinnungsjustiz“ wirklich um gesellschaftliche Fragen gehen, würde sie hier nicht auf einen Paragrafen zurückgreifen, der schon vor 200 Jahren von Bismarck genutzt wurde, die Mächtigen und Reichen zu schützen. Antifaschist:innen heute fühlten sich dem „Schwur von Buchenwald“ verpflichtet und er sei, im Falle der Verurteilung durch den Senat, „ohne Zweifel“ bereit, eine Strafe abzusitzen.

Als Tobi endet, brandet lauter Beifall auf, solidarische Zurufe. Seitens eines Justizbeamten wird energisch vor weiteren Beifallsbekundungen gewarnt.

Die Bundesanwaltschaft entgegnet, hier handele es sich nicht um ein gesetzlich vorgesehenes Opening Statement, sondern schon eine Einlassung zur Sache, die aber später komme. Der Vorsitzende meint dazu nur, es sei am Ende irrelevant wie man es einstufe, er wolle hören, was die Angeklagten zu sagen hätten.

Der unermüdliche Landerer geht durch das Publikum und mahnt wieder, es dürfe nicht geklatscht werden, er habe kein Problem damit einzelne Personen raus zu werfen.

Julian gibt sein Opening Statement ab

Julian spannt den Bogen von den sogannnten „Baseballschlägerjahren“ und zitierte Hannah Ahrendt, die einmal von der Gefahr der Gleichgültigkeit geschrieben hatte. Dann folgen Halle, Hanau, die Naziangriffe durch Leon Ringl, die rechtsterroristische „Atomwaffen Divison“. Für links verortete Menschen besteht keine abstrakte Gefahr Opfer zu werden, sondern eine ganz konkrete Bedrohungslage. Drohungen, Übergriffe auf linke Jugendliche prägen das Leben von jungen Jahren an. Der Staat hingehen stehe für Ignoranz rechter Gewalt. Wohingegen Linke im staatlichen Fokus stünden.

Haltung, Mut und Würde, das zähle.

Wieder Applaus aus dem Publikum, was den Vorsitzenden zu dem Hinweis veranlasst, man sei „hier nicht im Theater“.

Thomas’ Opening Statement

Fast eine halbe Stunde wird Thomas sprechen, er wendet sich ausdrücklich an die „lieben solidarischen Prozessbegleiter“. Er verstehe, dass staalicherseits ermittelt würde, auch wenn Nazis Opfer körperlicher Gewalt würden, das sei kein Skandal. Aber es sei ein Skandal, wenn, wie hier, der Generalbundesanwalt das Verfahren übernehme und im Rahmen einer politischen Entscheidung sieben Antifaschist:innen willkürlich zusammenfasse und sie anklage. Die Anklage ziele auf seine Haltung als Antifaschist!

Er beschrieb seine Kindheit und Jugend, geboren 1976 in Königs Wusterhausen, die bald von Konfrontation mit Neonazis geprägt war. Über die Umbruchsituation nach 1989/90, wie „Glatze, Springerstiefel und Bomberjacke“ bald allgegenwärtig wurden.

So wie andere von einer Party berichteten auf der sie gewesen sind, hätte ein Mitschüler von ihm, über Aktionen des „Ku-Klux-Klan“ gesprochen, die dieser besucht habe. Ein Nazi habe ihm, Thomas, ins Gesicht geprügelt und das kommentiert mit „Du hast Glück, dass ich Dich kenne“, und das dann so verstanden, dass er womöglich auch hätte umgebracht werden können.

Dann erzählt Thomas von den beiden Jungendlichen, beide hießen Mario, die 1992 tot in Königs Wusterhausen aufgefunden wurden, wie die Polizei die Morddrohungen durch Nazis ignoriert und das ganze erstmal als Unfälle abgetan habe. Hier fängt Thomas das erste Mal zu weinen an. Immer wieder, wenn er von den Morden und Angriffen von Neonazis berichtet, nimmt ihn ersichtlich mit. Er zählt viele Opfer in den 90‘er Jajren auf, die er persönlich kannte. Spricht von den Pogromen, der systematischen Entpolitisierung der Nazigewalt durch Politik und Justiz.

Dann nennt er, um „alternativen Jugendlichen“, die von Neonazis ermordet wurden, Namen und Gesicht zu geben, im einzelnen:

Mike Zerna (22 Jahre) gestorben am 25. Februar 1993, wenige Tage nachdem er in der Nacht vom 19. zum 20. Februar 1993 bei einem Neonazi-Überfall auf den Jugendclub „Nachtasyl“ in Hoyerswerda schwer verletzt worden war: Rechte Skinheads stürmten den Club, zerrten ihn aus seinem Wagen und warfen einen Transporter auf ihn, quetschten ihn ein; er starb im Krankenhaus an den Folgen.

Sven Beuter war ein Punk aus Brandenburg an der Havel, der am 15. Februar 1996 von einem Neonazi angegriffen und zusammengeschlagen wurde; er fiel ins Koma und starb fünf Tage später am 20. Februar 1996 an den Folgen.

Frank Böttcher (17 Jahre) wurde am 8. Februar 1997 in Magdeburg-Neu-Olvenstedt von einem gleichaltrigen Naziskinhead erstochen — der Täter gab an, er habe Böttchers äußerliches Erscheinungsbild („Punk“, Irokesenschnitt) als Provokation empfunden, woraufhin er ihn mit Tritten und Messerstichen attackierte.

Torsten Lamprecht war 23 Jahre alt und wurde am 9. Mai 1992 bei einem gezielten Überfall von rund 50–60 bewaffneten Neonazis auf eine Punk-Geburtstagsparty in der Magdeburger Gaststätte Elbterrassen (Stadtteil Cracau) schwer verletzt. Er erlag zwei Tage später, am 11. Mai 1992, einer Schädelbasisfraktur.

Es seien dem entschlossenen antifaschistischen Selbstschutz gelungen auch in Königs Wusterhausen im Laufe der Jahre alternative Freiräume zu schaffen, aber die Neonazis seien nie wirklich weg gewesen.

Ausführlich geht er exemplarisch auf den Neonazi Carsten Szczepanski ein, wie dieser auch Ende der 90‘er in Königs Wusterhausen seine Nazistrukturen forcierte, wie er und seine „Kameradschaft“ regelmäßig Linke attackierten, auch ihn selbst. Wie es 2001 Brandanschläge auf ein von Roma bewohnte Wohnwagensiedlung gab. Oder wie er selbst Opfer eines Brandanschlages wurde, und nur durch Zufall ein Brandsatz nicht zündete. Dieser Anschlag geschah anlässlich eines antirassistischen Jugendfestivals im im brandenburgischen Königs Wusterhausen. Einem bekannten Nazi, verschaffte erstmal das LKA Berlin ein Alibi. Die Polizei, so Thomas, habe zu Anfang abgewiegelt und in den Raum gestellt, die Jugendlichen hätten das alles selbst inszeniert.

Die Wahl konsequenter Mittel gegen Neonazi stelle „keinen Angriff auf den Rechtsstaat“ dar, denn die „reale Gefahr geht von Rechtsextremen“ aus. Es sei notwendig, dass die Betroffenen selbst Verantwortung übernehmen und sich wehren! „Antifaschimus ist notwendig!“

Es brandet Beifall im Saal auf und der nun allen schon sehr vertraute Landerer kommt herbei geeilt um sich zu notieren, wer genau geklatscht hat und stellt Konsequenzen in Aussicht.

Der Vorsitzende Richter wird nach einer kurzen Unterbrechung vier FLINTA* Personen namentlich nennen und das als „letzte Warnung“ verstanden wissen wollen (Landerer scheint nicht so recht zufrieden, aber er darf ohne Anweisung des Vorsitzenden im Grunde nichts tun).

Erste Beweiserhebung

Der zweite Verhandlungstag endet mit einer halbstündigen Inaugenscheinnahme. Die erste Beweiserhebung- jetzt ist der Prozess in die Beweisaufnahme eingetreten.

Nachdem alle Anwält:innen auf ihren Rechnern die Lichtbildmappe gefunden haben (doe chaotischen Zustände auf welche die Anwält:innen zuvor hinwiesen, was die Akteneinsicht angeht, wurden hier anschaulich), schauten sich alle, entweder am jeweiligen PC, oder auf den großen von der Decke hängenden Monitoren die damalige Leipziger Wohnung von Lina E. an. Am 10.06.2020 trat die Polizei die Türe ein, fotografisch waren die Schäden dokumentiert worden, und durchsuchte alle Räume. Schwerpunkt der Lichtbildermappe waren allerdings die Fotos von Handys und Sim-Karten. Allerdings ging es mit den Bilder einmal quer durch die Wohung. Von der Küche, über Bad, Schlafbereich und Wohnzimmer.

Kurz nach 16:00 Uhr endete der 2. von sicherlich am Ende weit über 100 Prozesstagen.

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